Nate saß still vor dem Helm, den er in fünf anstrengenden Tagen mit unerbittlicher Konzentration und kaum einer Pause gebaut hatte. Seine Finger strichen über die glatte Metalloberfläche, deren dunkle, reflektierende Hülle das Gewicht zu vieler Hoffnungen trug. Eine Welle der Unsicherheit stieg in ihm auf, als er sie anstarrte. Der Raum war still, bis auf das leise Summen der Geräte in der Nähe.
Sera saß ihm gegenüber, die Ellbogen auf dem Tisch, das Kinn in die Hand gestützt, während ihr Blick zwischen Nate und dem Gerät hin und her wanderte. Sie beobachtete ihn aufmerksam, Besorgnis stand ihr ins Gesicht geschrieben, doch sie sagte noch nichts. Hinter ihnen lehnte Alice mit verschränkten Armen an der Wand, sichtlich unbeeindruckt von dem, was sie sah.
„Wann hast du das letzte Mal geschlafen?“, fragte Alice mit scharfem, aber besorgtem Tonfall.
Nate drehte sich nicht einmal zu ihr um. Er starrte weiter auf den Helm, fast so, als hätte er Angst, er würde verschwinden, wenn er blinzelte. „Vor fünf Tagen“, antwortete er beiläufig.
Alice runzelte die Stirn. „Das ist doch ein Witz.“
Bevor sie mit ihrer Predigt anfangen konnte, brach Sera das Schweigen.
„Was ist das Schlimmste, was passieren kann, wenn das nicht funktioniert?“
Das ließ Nate aufblicken, sein Gesichtsausdruck unlesbar. Er kratzte sich am Hinterkopf und murmelte: „Wenn es funktioniert, können wir vielleicht Bella und Madison finden. Wenn nicht … könnte es mein Gehirn braten.“
Alice drückte sich sofort von der Wand ab und trat näher. „Was?“
Sogar Sera setzte sich aufrechter hin, Alarm in ihren Augen. „Dein Gehirn braten bedeutet, dass du stirbst, oder?“
„So in etwa, ja“, sagte Nate mit einem nervösen Lachen.
Die beiden Mädchen tauschten einen langen, wortlosen Blick, ihre Besorgnis war augenblicklich synchron. Dann drehten sie sich wie auf Kommando zu ihm um und sagten: „Das ist doch ein Scherz, oder?“
Nate hob beide Hände wie ein Kind, das mit der Hand in der Keksdose erwischt wurde. „Entspannt euch, ich mache nur Spaß. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass es nicht funktioniert.
Keine Nebenwirkungen. Ich schwöre.“
Weder Alice noch Sera sahen überzeugt aus.
Aber Nate hob bereits den Helm auf, dessen Unterseite ein komplexes Geflecht aus leuchtenden Drähten und Mikroschaltungen war. Er passte die Riemen an, während Alice näher kam und ihre Finger zuckten, als wäre sie bereit, ihm den Helm beim ersten Anzeichen von Gefahr vom Kopf zu reißen. Sera blieb still stehen, aber ihre Augen ließen Nates Gesicht nicht los.
„Okay, drück auf den Schalter“, sagte Nate und atmete tief aus.
Alice zögerte einen Moment, ihr Finger schwebte über dem Aktivierungsknopf. Als sie ihn schließlich drückte, surrte der Helm zum Leben. Dünne Kabel an den Seiten leuchteten schwach blau auf, und Nates Augen wurden augenblicklich leer.
In einem Augenblick war er nicht mehr im Labor.
Was er sah, war eine militärische Einrichtung – aber sie war ganz anders, als er erwartet hatte. Sie lag in Trümmern. Die gesamte Basis sah aus, als wäre sie kürzlich auseinandergerissen worden. Rauch stieg aus zerbrochenen Dächern auf. Krater hatten sich im Boden aufgetan, Teile von Mauern und Fahrzeugen lagen überall verstreut. Zäune waren gesprengt worden, und Brandspuren zierten den Beton wie in einem Kriegsgebiet.
Es war unheimlich still.
Keine Schüsse. Keine Sirenen. Keine Menschen. Auch keine Leichen, was angesichts des Ausmaßes der Zerstörung seltsam war. Aber Nate wusste, dass dies nicht die reale Welt war – er sah nur Fragmente der Realität, gefiltert durch die mentale Verbindung, die der Helm hergestellt hatte.
Er ging mit klopfendem Herzen durch die Trümmer. Seine Augen suchten jede Ecke, jeden eingestürzten Korridor, jeden zerstörten Flur ab. Er rief: „Bella!
Madison!“, aber es kam keine Antwort. Seine Stimme hallte wider und prallte von den zerstörten Wänden ab.
Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie sollten hier sein …
Er drang tiefer in die Vision ein, aber bevor er weiterkommen konnte, begann die gesamte Szene zu wackeln. Seine Sicht verschwamm, Lichter flackerten und alles um ihn herum verzerrte sich und brach zusammen wie ein kaputtes Programm, das außer Kontrolle geraten war.
Dann wurde es dunkel.
Nate schnappte nach Luft und schoss aufrecht in die Höhe.
Der Helm war weg. Blut tropfte aus seiner Nase und lief ihm über die Lippen. Seine Haut war kalt und schweißnass. Er blinzelte mehrmals, um seine verschwommene Sicht zu klären.
Alice stand neben ihm, den Helm bereits abgenommen und auf den Tisch gelegt. In der einen Hand hielt sie ein Tuch, in der anderen hatte sie einen entsetzten Ausdruck.
Sera stand direkt neben ihr, die Augen weit aufgerissen und ausnahmsweise einmal völlig still.
„Du hast geblutet“, sagte Alice mit fester Stimme. „Der Helm war überlastet. Wir mussten dich herausziehen.“
Nate wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab und atmete zittrig. Er konnte immer noch das Echo dieses zerstörten Ortes in seinem Kopf hören.
Dann sah er zu ihnen auf und sagte mit entschlossener Stimme: „Ich weiß, wo sie sind.“
Die beiden Mädchen tauschten einen Blick aus, ihre Besorgnis wurde noch größer.
Aber in diesem Moment war Nate das alles egal. Der Helm hatte funktioniert. Nicht perfekt, nicht sicher – aber er hatte ihm etwas gezeigt. Eine Spur. Einen Ausgangspunkt. Und wenn es auch nur die geringste Chance gab, dass Bella und Madison dort waren, würde er sie nutzen.
—
Blitze zuckten durch den dichten Wald und verscheuchten die Vögel aus den Baumwipfeln, als Nate zum Stehen kam. Funken sprühten und tanzten um seinen Körper, dann wirbelten sie in einem sanften Wirbelwind neben ihm herum. Aus dem Wirbel materialisierten sich Alice und Sera, während die Energie in schimmernden Streifen zerfloss.
„Das … war supercool“, sagte Alice und blinzelte, während sie sich festhielt.
Sera nickte nur und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihr Blick war bereits nach vorne gerichtet.
Vor ihnen stand das, was von der Militäranlage übrig war, die Nate in seiner Vision gesehen hatte. Sie war nicht nur verlassen, sondern komplett zerstört. Verzerrte Balken ragten aus zerbrochenen Wänden, Flammen flackerten in der Nähe von rissigem Beton und elektrische Funken tanzten entlang zerbrochenem Metall. Der Himmel darüber war grau und schwer von dem Geruch von Asche und Rauch.
„Das ist noch nicht lange her“, sagte Sera und suchte den Horizont ab.
„Keine Leichen …“, fügte Alice hinzu, die neben einigen zerbrochenen Geräten kniete. „Keine Spuren von Schüssen, keine Anzeichen von Verteidigung. Was auch immer passiert ist, es ging schnell.“
Sie bewegten sich leise durch die Ruinen, traten über Glasscherben und geschmolzene Drähte. Ein Stacheldrahtzaun, der unter einem umgestürzten Wachturm begraben war, lag in einem Haufen. Sie sprangen mühelos darüber hinweg. Je tiefer sie vordrangen, desto schlimmer schien der Schaden zu sein. Wände waren geschmolzen, Steine von innen zerschmettert, Metall wie Papier verbogen.
Und immer noch keine Spur von Bella, Madison oder Jack.
—
24 Stunden zuvor
Jack bewegte sich schnell im Labor und warf Werkzeuge und Notizen in einen kompakten Koffer. Seine Finger waren flink, aber seine Gedanken waren woanders. Der Stein hinter ihm pulsierte sanft, als würde er atmen. Jedes Mal, wenn er ihm den Rücken zudrehte, kribbelte es auf seiner Haut.
Er schloss den Koffer und drehte sich um, um eine letzte Messung vorzunehmen, doch dann –
Komm~
Die Stimme war leise, als würde sie durch die Zeit geflüstert.
Jack blinzelte und drehte den Kopf. „Was zum Teufel …“
Komm …
Diesmal war die Stimme lauter. Deutlicher. Näher. Jacks Hände erschlafften und das Werkzeug, das er hielt, fiel mit einem lauten Klirren zu Boden.
Er ging langsam auf den Stein zu, die Augen weit aufgerissen, den Verstand benebelt. Die Glasvitrine schimmerte in einem schwachen blauen Licht. Die Stimme hallte in seinen Gedanken wider, leise, aber unwiderstehlich. Seine Finger griffen nach dem Verschluss.
Die Tür flog auf.
„Halt! Weg da!“
Drei Soldaten stürmten herein, ihre Waffen halb erhoben. Einer von ihnen sprang vor, die Augen voller Panik.
„Wenn du das anfasst, bist du tot!“
Aber Jack hörte sie nicht.
Er öffnete die Glaskuppel und hob sie hoch. Der Stein pulsierte einmal, hell und kraftvoll.
Seine Fingerspitzen berührten die Oberfläche –
Und die Welt verschwand.
—
Er war nirgendwo. Und überall.
Jack öffnete die Augen, aber es gab keinen Körper, mit dem er sie öffnen konnte. Keine Arme, keine Beine, kein Atem. Er war ein Gedanke, der in der Leere schwebte. Ein Ozean der Dunkelheit umgab ihn, doch es gab auch Licht. Ein Licht, das sich wie flüssige Schatten bewegte und wand.
Vor ihm schwebte eine schwarze Kugel, die mit einem unheimlichen, verzerrten Licht leuchtete, das aufblitzte und wieder verschwand. Sie verdrehte den Raum um sich herum wie die Schwerkraft, als gehöre sie nicht hierher.
Komm~
Diesmal war es kein Flüstern. Es war ein Ziehen. Ein Befehl. Eine Gewissheit.
Jack runzelte die Stirn. Irgendwie wurden seine Gedanken zu einer Stimme. „Was bist du?“
„Dein Schöpfer.“
Jack hätte gelacht, wenn er Lungen gehabt hätte. „Ja, klar. Ich bin nicht aus einem Stein geboren.“
„Nicht aus einem Stein“, antwortete es. Das Licht schoss nach vorne und umhüllte ihn.
Bilder drangen in seinen Kopf. Keine Erinnerungen. Visionen. Offenbarungen.
Er sah Planeten entstehen und auseinandergerissen werden. Sterne kollabierten. Er sah alte Zivilisationen in einem kosmischen Augenblick entstehen und untergehen. Und dann sah er die Erde. Primitiv. Jung.
Der Stein war vor Jahrtausenden hierher gekommen. Er hatte gewartet. Gesucht. Getestet.
Er sah Menschen. Untertanen. Generäle. Wissenschaftler. Soldaten.
Alle hatten versagt. Ihr Verstand brach unter dem Druck des Willens des Steins zusammen. Ihre Körper lehnten seine Frequenz ab.
Und dann sah er Nate. Eine strahlende Flamme, mächtig und voller Potenzial.
Aber selbst Nate brach zusammen.
Keiner war würdig.
Jack sah ein Kind, geboren in einem Krankenhaus mit flackernden Lichtern. An dem Tag, an dem der Stein zum ersten Mal seit Jahrhunderten pulsierte. Er sah seine Mutter schreien. Ärzte in Panik. Maschinen, die kaputt gingen.
Und dann sah er … sich selbst.
Ich habe dich erschaffen. Ich habe dich geformt. Du bist das Gefäß, das ich gebaut habe. Der Geist, der stark genug ist, mich zu beherrschen.
Jacks Gedanken waren jetzt still. Der Stein hatte ihn nicht nur gefunden.
Er hatte ihn erschaffen.
Die Vision begann zu verblassen, und Jacks Gestalt kehrte zurück, sein Bewusstsein verankerte sich wieder.
Er stand am Rande des Verstehens, und alles, was er flüstern konnte, war:
„Oh… Scheiße.“
—
Zurück im Labor waren die Soldaten zurückgewichen und beobachteten Jack mit Entsetzen. Er schwebte. Nur wenige Zentimeter über dem Boden, seine Augen pechschwarz, leuchteten sie mit dem gleichen unheimlichen Licht wie der Stein.
„Holt den Kommandanten!“, schrie einer der Soldaten. „Sofort!“
Aber sie waren zu spät. Jack war nicht mehr derselbe.