Alice‘ Machtdemonstration hatte alles verändert. In dem Moment, als sie in die Hände klatschte und tausend Gorvaks wie zerbrechliches Glas zerschmetterte, veränderte sich das Schlachtfeld schlagartig. Die Angst, die die Herzen der Überlebenden erfüllt hatte, verschwand und wurde durch etwas anderes ersetzt – etwas Stärkeres. Zuversicht. Hoffnung.
Auch wenn sie nur wenige waren, fühlten sie sich nicht mehr schwach. Es spielte keine Rolle mehr, dass sie in der Unterzahl waren. Solange Alice bei ihnen stand, solange sie eine ganze Armee in Sekundenschnelle auslöschen konnte, glaubten sie, dass sie alles schaffen konnten.
Madison, die ihren Kristallbogen immer noch fest umklammerte, sah Alice herabsteigen, während der kalte Nebel um sie herum verschwand. Ihr Atem war ruhig, aber in ihren Augen lag etwas anderes – eine stille, unlesbare Schwere. Madison konnte sehen, dass Alice nicht jubelte. Sie war nicht stolz auf das, was sie getan hatte, und empfand keine Befriedigung darüber, dass sie in einem Augenblick tausend Leben ausgelöscht hatte. Madison kannte dieses Gefühl nur zu gut.
Macht wie die ihre hatte immer Konsequenzen. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, darüber nachzudenken.
Sie umklammerte ihren Bogen fester und zog ihn leicht über den Boden. Die kristalline Oberfläche schimmerte und pulsierte, als wäre sie lebendig. Dann hob sie ihn und ein Energiepfeil materialisierte sich an seiner Stelle und leuchtete in einem tiefen Blau. Aber diesmal ließ sie ihn nicht sofort los.
Stattdessen schloss sie die Augen.
Der Lärm des Schlachtfeldes verstummte. Das entfernte Brüllen der Gorvaks, das Rühren der Körper, das Murmeln der Überlebenden – alles verschwand aus ihrem Bewusstsein. Sie konzentrierte sich und kanalisierte ihre ganze Kraft in den Pfeil. Normalerweise hätte sie sofort geschossen und sich von ihrem Instinkt leiten lassen, aber diesmal nicht. Diesmal wollte sie mehr. Sie wollte ihre Kraft noch weiter steigern.
Der Pfeil vibrierte und pulsierte heller, je mehr Energie sie ihm zuführte. Der Bogen selbst zitterte in ihrem Griff und reagierte auf die überwältigende Kraft. Ihre Finger umklammerten ihn fester, die Energie strömte durch ihren Körper, wuchs, dehnte sich aus und wartete darauf, freigesetzt zu werden.
Dann spürte sie, wie sie ihren Höhepunkt erreichte.
Ihre Augen sprangen auf und leuchteten schwach blau, als sie losließ.
Der Pfeil schoss nach vorne und zerschnitt das Schlachtfeld mit einem ohrenbetäubenden Knall. Die schiere Kraft seines Abschusses wirbelte Staub auf und sandte eine Schockwelle über den Boden. Selbst Madison, die sich bereit gemacht hatte, wurde von der Energie leicht zurückgeschleudert. Die Überlebenden hinter ihr schnappten ehrfürchtig nach Luft und schützten ihre Gesichter vor dem plötzlichen Windstoß.
Alice, die immer noch in der Luft schwebte, spürte es als Erste.
Ein seltsames Gefühl durchfuhr sie, etwas Mächtiges, etwas Lebendiges. Ihr stockte der Atem, als sie nach unten blickte und ihre Augen sich weiteten. Sie konnte es sehen, fühlen – Madisons Pfeil war nicht nur mächtig. Er wuchs. Die Energie, die ihn umgab, schwoll an und dehnte sich aus, während er auf die verbleibenden Gorvaks zuraste.
Die Kreaturen hatten kaum Zeit zu reagieren.
In dem Moment, als der Pfeil einschlug, brach die Welt aus allen Fugen.
Eine ohrenbetäubende Explosion erschütterte das Schlachtfeld, als eine Welle blauer Energie nach außen schwappte und alles in ihrem Weg verschlang. Die Gorvaks, die noch versuchten, wieder auf die Beine zu kommen, wurden von der Explosion erfasst und ihre monströsen Körper zerfetzten in Stücke. Blut und Fleisch flogen wie Staub im Wind und besudelten den Boden in einem grauenhaften Anblick. Die schiere Wucht der Explosion zerstörte alles in ihrer Reichweite und hinterließ nichts als Verwüstung.
Und dann – Stille.
Eine ganze Minute lang stand das Schlachtfeld still.
Kein Brüllen. Keine Bewegung. Nichts.
Jeder einzelne Gorvak der ersten Welle – bis auf den letzten – war verschwunden.
Die kleine Gruppe von Überlebenden hinter Madison und Alice konnte nur starren, ihre Augen weit aufgerissen vor Unglauben. Dann, wie eine Flut, die einen Damm durchbricht, wich ihr Schock der Freude. Ein ohrenbetäubender Jubel brach aus, als sie ihre Waffen erhoben und ihre Stimmen über das Schlachtfeld hallten.
Wenn es so weitergehen würde, dann war der Sieg schon in ihren Händen.
Ryder, der am anderen Ende des Schlachtfeldes stand, hatte gerade seine Seite von den Feinden gesäubert. Seine Fäuste waren noch blutverschmiert, seine Rüstung vom Kampf verbeult, aber er sah kaum müde aus. Mit einem letzten Schütteln seiner Hände drehte er sich um und machte sich auf den Weg zurück zu Alice und Madison.
Aber als er näher kam, fühlte sich etwas … seltsam an.
Sie feierten nicht.
Im Gegensatz zu den anderen standen Alice und Madison regungslos da, ihre Gesichter voller Sorge. Ihre Blicke waren nicht auf die Zerstörung gerichtet, die sie angerichtet hatten – sie schauten daran vorbei. An dem zerstörten Schlachtfeld vorbei. An den Leichen der gefallenen Gorvaks vorbei.
Ryder runzelte die Stirn. „Was ist los?“
Alice‘ Stimme war leise, aber bestimmt. „Schau genauer hin.“
Ryder schaute zum Horizont, wo der Feind näher kam. Zuerst sah es aus wie immer – eine weitere Welle von Gorvaks, die wie zuvor angriffen. Aber dann sah er es.
Etwas war anders.
Diese Gorvaks waren nicht wie die ersten. Ihre Körper waren größer, ihre Bewegungen gezielter. Und das Wichtigste: Jeder einzelne von ihnen hatte zwei Schwänze.
Sein Magen zog sich zusammen. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube.
Die erste Welle … war nur ein Test gewesen. Ein Opfer.
Diese Gorvaks – das war der wahre Feind.
Ryder ballte die Fäuste. Er drehte sich zu der Gruppe der Überlebenden um, seine Stimme war scharf und durchdrang die letzten Reste ihrer Feierlaune. „Hört mir zu!“, rief er, und seine Stimme hallte über das Schlachtfeld.
Der Jubel verstummte augenblicklich, als alle Augen auf ihn gerichtet waren. „Die nächste Welle kommt, und sie wird härter sein als alles, was ihr bisher erlebt habt. Wenn ihr nicht wachsam bleibt, wenn ihr nicht zusammenhaltet, dann werdet ihr alle sterben.“
Die Überlebenden schluckten schwer, ihre Begeisterung wich der kalten Realität. Ihre Blicke wanderten zu den vorrückenden Gorvaks, und die Last der bevorstehenden Schlacht lastete schwer auf ihnen.
Niemand musste es aussprechen. Sie alle wussten es.
Dieser Kampf würde nicht einfach werden.
Madison holte tief Luft und trat neben Alice. Ihre Schultern berührten sich fast, als sie die zweischwänzigen Gorvaks näher kommen sahen. Sie konnte die Spannung in der Luft spüren, das stille Einverständnis zwischen ihnen.
Sie drehte den Kopf leicht und warf Alice einen entschlossenen Blick zu. „Wir machen das als Team.“
Alice zögerte nicht. Sie nickte einmal. „Als Team.“
Und als die zweite Welle von Gorvaks vorwärts stürmte, begann der eigentliche Kampf.
—
Jack und sein Team blieben versteckt und beobachteten mit angehaltenem Atem, wie sich das Schlachtfeld entfaltete. Der Lärm der Schlacht hallte in der Ferne wider, aber ihre Augen waren auf das Portal gerichtet, das immer noch in der Mitte der Lichtung wirbelte. Von ihrem Aussichtspunkt aus hatten sie alles gesehen – wie Madison und Alice die erste Welle der Gorvaks mit furchterregender Kraft vernichtet hatten und wie die Überlebenden gefeiert hatten, weil sie dachten, die Schlacht sei vorbei.
Aber Jack wusste es besser.
Seine Finger umklammerten den Griff seines Schwertes, während sein Blick zum Portal huschte. Die zweite Welle der Gorvaks strömte bereits hervor – aber diese waren anders. Ihre Körper waren größer, ihre Muskeln definierter und ihre Bewegungen unheimlich koordiniert. Im Gegensatz zur ersten Welle, die rücksichtslos angegriffen hatte, rückten diese Kreaturen mit bedächtigen Schritten vor, ihre beiden Schwänze schwangen hinter ihnen wie tödliche Peitschen.
Dann veränderte sich die Atmosphäre.
Aus der wirbelnden Energie des Portals tauchte eine weitere Gestalt auf.
Jack stockte der Atem, als er sah, wie ein einzelner Gorvak vorwärts trat, dessen bloße Anwesenheit ihm den Magen umdrehte. Im Gegensatz zu den zweischwänzigen Kreaturen, die zuvor herausgestürmt waren, bewegte sich dieser mit langsamen, bedächtigen Schritten, als hätte er keinen Grund zur Eile. Seine Haltung war entspannt – fast arrogant. Aber was Jack einen kalten Schauer über den Rücken jagte, war der dritte Schwanz, der hinter ihm schwang, dick und mit gezackten Stacheln bedeckt.
Ein dreischwänziger Gorvak.
Jack hatte noch nie einen gesehen, aber auch ohne seine Fähigkeiten zu kennen, spürte er den Unterschied. Dies war nicht nur eine weitere hirnlose Bestie. Es war intelligent, aufmerksam. Gefährlich.
Sein Herz pochte, als er sich zwang, konzentriert zu bleiben. Er konnte nur hoffen, dass Alice und Madison ihre Position halten konnten, bis der Rest der Gruppe zu ihnen stieß. Doch dann fiel ihm etwas anderes auf.
Das Portal – es schloss sich.
Jacks Blick schoss zu der wirbelnden Energiemasse. Das einst stabile Tor begann zu schrumpfen, seine Ränder flackerten heftig, als würde es nach innen gezogen. Sein Puls beschleunigte sich. Wenn das Portal sich schloss, bevor sie hindurchkamen, würden sie ihre Chance verlieren.
Sie warteten, bis der dreischwänzige Govark weg war, dann verschwand die Illusion um sie herum in einem Augenblick.
Die Luft flimmerte, und plötzlich waren sie nicht mehr versteckt. Sam hatte seine Fähigkeit deaktiviert und ihre Position preisgegeben. Ohne zu zögern stürmte die Gruppe vorwärts und rannte so schnell sie konnten auf das Portal zu.
„Los! Jetzt!“, schrie Jack.
Sam war schon bereit, griff in seinen Rucksack und zog einen schlanken Metallstab heraus – eine von Rays Erfindungen. Ohne zu zögern rammte er ihn in den Boden in der Nähe des Portals.
Die Reaktion kam sofort.
Der Stab pulsierte vor Energie und sandte Lichtwellen nach außen. Das sich schließende Portal zitterte und hörte dann auf, kleiner zu werden. Ein Feld aus goldener Energie bildete sich an seinen Rändern und stabilisierte es gerade noch rechtzeitig. Jack atmete erleichtert auf. Ray hatte dieses Ding nach Jacks Berechnungen gebaut, und im Moment funktionierte es genau so, wie sie es sich erhofft hatten.
Aber der Stab hielt nicht nur das Portal davon ab, sich zu schließen – er tat noch etwas mehr.
Jacks Augen verengten sich, als sich die Energie zu verändern begann. Das Portal, einst ein Einwegtor, begann sich umzukehren. Es öffnete sich auf beiden Seiten. Das war Rays wahres Ziel gewesen – nicht nur das Portal offen zu halten, sondern es bis zu seiner Quelle zurückzuverfolgen. Wenn ihre Feinde es benutzten, um hierher zu gelangen, dann würden Jack und sein Team es benutzen, um zurückzugehen.
Jack ballte die Faust. „Es funktioniert.“
Er machte einen Schritt nach vorne, zögerte dann aber. Die wirbelnde Energiemasse war instabil und unberechenbar. Er hatte keine Ahnung, was sich auf der anderen Seite befand. Aber das war egal. Wenn sie Antworten wollten – wenn sie das beenden wollten –, mussten sie das Risiko eingehen.
Er holte tief Luft, streckte die Hand aus und drückte sie gegen die Oberfläche des Portals. In dem Moment, als seine Finger hindurchgingen, spürte er einen Sog – ein seltsames Gefühl, als würde sein Körper gleichzeitig gedehnt und zusammengedrückt werden. Er biss die Zähne zusammen und zwang sich, einen Schritt vorwärts zu machen.
Und dann war er weg.
Der Rest des Teams folgte ihm. Einer nach dem anderen verschwanden sie in der wirbelnden Energie und tauchten ins Unbekannte ein.
In dem Moment, als Jack auf der anderen Seite herauskam, spannte sich sein Körper an. Die Luft war staubig, der Geruch von Mineralien und feuchtem Stein erfüllte seine Lungen. Er blinzelte und gewöhnte sich an das schwache Licht. Die Umgebung kam ihm sofort bekannt vor – zu bekannt.
Als er erkannte, wo sie waren, sank ihm das Herz.
Über den Boden der Höhle waren zerbrochene Bergbauwerkzeuge, verrostete Ketten und die schwach leuchtenden Überreste von Niyx-Kristallen verstreut, die in den Wänden steckten. Das war eine der Minen. Einer der Orte, an denen die Wächter sie einst zur Arbeit gezwungen hatten, wo sie wie einfache Arbeiter behandelt worden waren.
Aber das war noch nicht das Schlimmste.
Jacks ganzer Körper spannte sich an, als er vor sich eine Bewegung wahrnahm. Ein großer Schatten tauchte im trüben Licht auf, seine Präsenz war unverkennbar. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er die Gestalt erkennen.
Ein Gorvak stand vor ihnen.
Aber nicht irgendein Gorvak.
Seine massive Gestalt wurde teilweise von einem schwachen Kristallglanz beleuchtet, seine schwarzen Schuppen schimmerten unheimlich. Aber was Jack einen kalten Schauer über den Rücken jagte, war der unverkennbare Anblick hinter ihm – drei Schwänze, die langsam hin und her schwangen wie die eines Raubtiers, das sich zum Sprung bereitmacht.
Die Kreatur stürzte sich nicht auf ihn. Sie brüllte nicht. Sie beobachtete ihn einfach nur.
Eine langsame, bedächtige Bewegung, ihre Augen fixiert auf Jack.
Der Rest des Teams kam hinter ihm durch das Portal, einer nach dem anderen. Sie hatten kaum Zeit, ihre Umgebung zu registrieren, bevor auch sie sahen, was sie erwartete.
Stille.
Jacks Finger umklammerten den Griff seines Schwertes. Sein Herz pochte in seinen Ohren, als er vorsichtig einen Schritt nach vorne machte.
Dann murmelte er mit kaum mehr als einem Flüstern: „Nun … das wird kompliziert.“