Nate machte einen Schritt zurück und umklammerte Cleo fester, während die Dunkelheit pulsierend von Seras regungslosem Körper ausging und sich wellenförmig ausbreitete. Die pechschwarzen Schattenranken wand sich wie Lebewesen, schlitterten über den Boden und krochen über die leblosen Hüllen derer, die sie bereits verschlungen hatte.
Und es hörte nicht auf.
Der schwarze Nebel breitete sich wie eine rollende Flut aus und verschlang alles in seinem Weg.
Der steinerne Hofplatz barst unter seiner Berührung, die Mauern des Palastes bebten, und dahinter –
Schreie.
Schrille, panische Schreie hallten durch die Straßen von Kemet-Ra und durchdrangen die Nacht wie das Heulen der Verdammten. Die Menschen hatten den unnatürlichen schwarzen Nebel gesehen, aber als sie die Gefahr erkannten, war es schon zu spät.
Eine schreckliche Erkenntnis traf Nate wie ein Hammerschlag in die Brust.
Die Schatten hatten ihre Häuser erreicht.
Er konnte sie hören – Männer, Frauen, Kinder –, die alle vor Qualen schrien, während die Dunkelheit durch ihre Wände und ihre Haut sickerte und sie von innen auffraß.
Genauso wie sie die Männer verschlungen hatte, die Seras Volk ermordet hatten.
Nur dass diese hier keine Mörder waren.
Es waren nur unschuldige Passanten, die in den Sturm ihrer Wut geraten waren.
Nates Herz pochte in seiner Brust. Er drehte sich abrupt um, seine Stimme schnitt wie ein Messer durch das Chaos.
„SERA, HÖR AUF!“
Sie reagierte nicht.
„SERA, MENSCHEN STERBEN!“
Nichts.
Keine Bewegung. Kein Anzeichen von Erkenntnis.
Sie war verloren – in ihrer Trauer, ihrer Wut, der überwältigenden Kraft, die sie unwissentlich entfesselt hatte.
Nate biss die Zähne zusammen und suchte verzweifelt nach einer Lösung. Er konnte es jetzt sehen – wie der schwarze Rauch sich um sie wickelte, sich von ihren Emotionen nährte und sie verstärkte. Es war nicht mehr nur ihre Wut. Die Kraft selbst wirkte wie ein Parasit, der sich von ihrer Trauer und Wut ernährte und sie immer tiefer in den Abgrund stürzte.
Sie hatte keine Kontrolle darüber.
Und wenn er sie nicht bald stoppte, würde es nichts mehr zu retten geben.
Er biss die Zähne zusammen, drehte sich weg, drückte Cleo an seine Brust, stieß sich vom Boden ab und schoss mit rasender Geschwindigkeit vorwärts.
Er musste sie zuerst hier rausbringen.
Alles um ihn herum verschwamm zu Lichtstreifen und Schatten, während er sich bewegte, und der Wind heulte in seinen Ohren. Er schlängelte sich durch die zerfallende Stadt und wich den kriechenden Tentakeln der Dunkelheit aus, die hungrig nach allem strebten, was noch lebte.
Die verängstigten Bürger der Stadt hatten kaum Zeit, seine Anwesenheit zu registrieren, bevor er wieder verschwunden war, wie ein Blitz, der ihre Sicht durchzog.
Innerhalb von Sekunden hatte er Cleo kilometerweit weggetragen und sie in Sicherheit gebracht, außerhalb der Reichweite des sich ausbreitenden Todes.
Ihre kleinen Finger krallten sich an seiner Tunika fest, ihr tränenüberströmtes Gesicht war voller Angst. „N-Nate … was ist mit Sera?“
Er kniete sich hin und strich ihr die Haare aus dem Gesicht. „Ich hole sie zurück“, versprach er mit fester, ruhiger Stimme, trotz des Sturms, der in ihm tobte.
Sie schniefte, nickte und vertraute ihm bedingungslos.
Er verschwendete keine Sekunde.
Mit einem elektrischen Knistern verschwand er aus dem Blickfeld.
Nate tauchte vor dem Palast wieder auf, sein Körper knisterte von der Restenergie seiner rasanten Bewegung. Sein Blick war auf die wirbelnde Dunkelheit vor ihm gerichtet.
Der dichte schwarze Nebel hatte das Palastgelände vollständig eingehüllt, eine sich bewegende, lebende Masse aus Schatten, die sich unnatürlich verdrehte und krümmte.
Es war nicht nur Dunkelheit – es war etwas ganz anderes.
Etwas stimmte nicht.
Die Menschen, die aus ihren Häusern vertrieben worden waren, standen wie erstarrt da und starrten auf das schreckliche Schauspiel vor ihnen. Ihre Gesichter waren blass, ihre Hände zitterten, ihre Stimmen waren leise Flüstern voller Angst.
„Das …“, murmelte ein Mann mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen. „So etwas habe ich noch nie gesehen.“
Eine andere Frau sank auf die Knie und umklammerte ihren Kopf. „Die Götter bestrafen uns!“
„Lauft! Flieht aus den Städten, bevor der Fluch sich ausbreitet!“
Die Menge zerstreute sich in alle Richtungen, verzweifelt bemüht, der wachsenden Leere zu entkommen, die ihre Stadt verschlang.
Aber Nate hatte nicht die Absicht zu fliehen.
Sein Blick verhärtete sich, als er einen Schritt nach vorne machte und trotzig am Rand des Abgrunds stehen blieb.
Dann rief er noch einmal.
„SERA!“
Seine Stimme hallte durch die leeren Straßen und durchdrang die unnatürliche Stille wie ein Messer.
Aber immer noch keine Antwort.
Seine Fäuste ballten sich, sein Körper spannte sich an.
Na gut.
Wenn sie nicht von selbst zur Vernunft kommen würde …
Dann würde er reingehen und sie rausholen müssen.
Mit einem letzten Atemzug schoss Nate vorwärts und verschwand in der Dunkelheit.
Nate stürmte vorwärts, sein Körper durchschnitten die erstickende Schwärze wie ein Messer. Aber irgendetwas stimmte nicht.
Seine Geschwindigkeit …
Es war weg.
Er rannte, aber es fühlte sich an, als würde er durch dickes, unsichtbares Teer waten. Seine Bewegungen waren träge, seine Muskeln kämpften gegen eine unsichtbare Kraft, die sich um seine Beine und Arme schlang, ihn nach unten zog und zurückhielt. So etwas hatte er noch nie zuvor gefühlt.
Nichts hatte ihn jemals aufgehalten.
Nicht im Kampf. Nicht in einem Sturm. Nicht einmal, als er verletzt war und blutete.
Aber das hier?
Dieses Ding – diese unnatürliche, lebende Dunkelheit – schränkte seine Geschwindigkeit auf eine Weise ein, die keinen Sinn ergab.
Er biss die Zähne zusammen und zwang sich vorwärts, Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug. Die Luft war schwer, drückte auf ihn, und je tiefer er in den Abgrund vordrang, desto erstickender wurde sie.
„Hat sie nicht gerade erst ihre Kräfte bekommen?!“
Eine neue Welle von Schatten pulsierte nach außen, schlängelte sich um ihn herum, umschlang seine Arme, seine Beine, seinen Oberkörper. Sie wanden sich wie Schlangen, krochen in seine Ohren, in seinen Mund und versuchten, in ihn einzudringen, ein Teil von ihm zu werden.
Er würgte und wand sich heftig, als die Tentakel der Dunkelheit seine Kehle hinunterglitten.
Nein. Verdammt nein.
Seine Kraft hatte nicht nachgelassen. Nicht einmal ein bisschen. Er konnte sie unter seiner Haut pulsieren spüren, darauf wartend, entfesselt zu werden.
Mit einem wütenden Knurren spannte er seinen ganzen Körper an, seine Muskeln spannten sich an und –
BOOM!
Die Schatten zerbrachen und zerplatzten wie zerbrechliches Glas. Die Wucht seiner Entladung sandte eine Schockwelle nach außen, die die eindringende Dunkelheit zurückdrängte, aber nur für einen Moment.
Die schwarzen Tentakel wichen zurück, verschoben sich und beobachteten ihn.
Dann stürmten sie erneut vorwärts.
Nate gab ihnen keine Chance.
In dem Moment, in dem er sich befreite, schoss er nach vorne, seine Geschwindigkeit entflammte erneut in einem einzigen, blendenden Ausbruch. Sein Körper verschwamm, Blitze zuckten hinter ihm, als er durch die alles verschlingende Leere raste und den sich windenden Tentakeln auswich, die versuchten, sich an ihm festzuhalten.
Sera war nah.
Er konnte sie spüren.
Aber je näher er kam,
desto schwerer fiel es ihm, sich zu bewegen.
Seine Geschwindigkeit schwankte, wurde langsamer und dann –
blieb stehen.
Seine Füße schlugen mit totem Gewicht auf den Boden.
Seine Beine wollten sich nicht heben.
Sein Körper – sein ganzer Körper – fühlte sich an, als würde er in die Erde gezogen.
Die Dunkelheit um ihn herum wurde dichter, drückte auf seine Schultern und drang in seine Poren ein.
Dann –
Schmerz.
Eine glühende, seelenzerstörende Qual, die sich wie ein Lauffeuer in seinen Adern ausbreitete.
Sein ganzer Körper zuckte, als er auf ein Knie fiel und nach Luft schnappte.
Es fühlte sich an, als wäre etwas in ihm.
Tausende – nein, Millionen – winziger, sich windender Wesen krochen unter seiner Haut, gruben sich in sein Fleisch, versanken in seinen Knochen. Er konnte spüren, wie sie sich bewegten, zappelten, bissen, fraßen.
Es war wie Ameisen.
Millionen von ihnen.
Sie schwärmten, labten sich, verschlangen ihn.
Ein erstickter Schrei entriss sich seiner Kehle.
Seine Finger krallten sich in seine Arme, in seine Brust, überall, versuchten, die unsichtbaren Eindringlinge aus ihm herauszureißen, sie loszuwerden, aber es gab nichts zu greifen, nichts zu ziehen.
Es war in ihm.
In seinem Inneren.
Seine Sicht verschwamm.
Er rang nach Luft.
Sein Verstand schrie ihn an, sich zu bewegen, zu kämpfen, sich zu befreien –
aber sein Körper reagierte nicht.
Jetzt konnte er es spüren.
Den Abgrund.
Er war nicht nur um ihn herum.
Er war in ihm.
Und er war am Gewinnen.