Der alte Mann machte einen langsamen Schritt nach vorne und sah Nate direkt in die Augen. „Komm mit mir“, sagte er, und seine Stimme klang nicht mehr so alt und streng. Sie war immer noch tief und voller Weisheit, aber jetzt auch irgendwie menschlicher. Vertrauter.
Nate zögerte einen Moment, warf einen Blick auf Alice, die immer noch wie angewurzelt dastand, bevor er seinen Blick wieder auf den alten Mann richtete. Er ballte die Fäuste, sein Kopf schwirrte noch von allem, was er gerade gehört hatte. Er war nicht bereit für mehr, aber irgendetwas sagte ihm, dass er keine Wahl hatte.
Der alte Mann hob eine verkrüppelte Hand, und die Luft schien zu vibrieren. Aus dem Nichts formte sich eine Tür – wenn man sie überhaupt so nennen konnte. Es war keine Tür aus Holz oder Stein und auch keines dieser leuchtenden Portale, die er zuvor gesehen hatte. Diese Tür bestand aus reinem weißen Licht, einem perfekten Rechteck, das in der Luft schwebte. Sie erstreckte sich endlos, blieb aber irgendwie in dem Raum vor ihnen.
Hinter der Tür war … nichts. Nur eine leere Fläche aus leuchtendem Weiß.
Nate schluckte, seine Kehle war plötzlich trocken. „Was ist auf der anderen Seite?“
Der alte Mann drehte sich einfach um und trat hindurch.
Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte Nate, sich umzudrehen, wegzulaufen und so zu tun, als wäre nichts davon real. Aber dann erinnerte er sich daran, dass er bereits zu tief gesunken war. Es gab kein Zurück mehr. Mit einem tiefen Atemzug trat er vor und überschritt die Schwelle.
Das Gefühl war sofort da und überwältigend.
Der Boden unter seinen Füßen verschwand. Es gab kein Gewicht, keinen Widerstand, keinen Sinn für Richtung. Er schwebte, schwebte in einer endlosen Leere.
Die Luft um ihn herum war dick und doch schwerelos, und als er nach unten schaute, verschluckte er sich fast an seinem eigenen Atem.
Unter ihm erstreckte sich eine ganze Welt.
Er konnte alles sehen, als würde er durch die Augen eines Gottes blicken. Es war nicht nur ein einzelnes Dorf oder ein kleines Stück Land – es war die ganze Erde, aber nicht so, wie er sie kannte.
Die Welt unter ihm war uralt. Städte aus Stein und Holz breiteten sich über weite Landschaften aus. Menschen bewegten sich umher, ihre Kleidung war aus natürlichen Stoffen gewebt, ihr Leben war frei von der Technologie, die er immer für selbstverständlich gehalten hatte. Es gab keine Autos, keine Wolkenkratzer, keine leuchtenden Werbetafeln. Es war eine Zivilisation, die von modernen Errungenschaften unberührt war und in scheinbarer Harmonie mit der Natur lebte.
Nate drehte seine Hände um und bemerkte zum ersten Mal, dass sie leicht durchscheinend waren. Er war nicht physisch hier – das war eine Art Vision. Vielleicht eine Erinnerung.
Er wandte sich an den alten Mann, der neben ihm schwebte. „Was ist das?“
„Die Vergangenheit“, sagte der alte Mann einfach.
Nate schaute wieder nach unten. Zuerst schien alles friedlich. Die Menschen gingen ihrem Alltag nach, sie bauten, jagten und bauten. Aber dann änderte sich etwas.
Die Tiere.
Zuerst waren sie normal – Wölfe, Bären, Vögel, sogar riesige Elefanten, die durch die Wildnis streiften. Aber dann … begannen sie sich zu verändern.
Nate stockte der Atem, als er die Verwandlung in Echtzeit mitverfolgte.
Die Tiere wurden größer. Ihre Körper verdrehten sich und veränderten sich, ihre Muskeln wurden dicker, ihre Augen leuchteten mit unnatürlicher Intelligenz. Ein Wolf wurde doppelt so groß, seine Krallen verlängerten sich zu messerscharfen Klauen. Ein Bär stellte sich auf seine Hinterbeine, sein Fell verhärtete sich zu etwas, das einer Rüstung ähnelte. Selbst die einst harmlosen Vögel wurden zu riesigen Kreaturen mit einer Flügelspannweite, die die Sonne verdecken konnte.
Sie wurden nicht nur größer. Sie entwickelten sich weiter – zu etwas Neuem, etwas Furchterregendem.
Und die Menschen?
Sie waren nicht darauf vorbereitet.
Schreie hallten vom Boden wider. Ganze Dörfer wurden in einer einzigen Nacht ausgelöscht. Armeen versuchten, sich zu wehren, aber ihre Waffen – bloße Speere und Pfeile – waren nutzlos gegen Bestien, die schneller, stärker und unglaublich intelligent waren. Die Erdbewohner waren machtlos.
Nate ballte die Fäuste. Er hatte immer geglaubt, dass die Menschen die dominierende Spezies seien, aber hier – direkt vor seinen Augen – erlebte er genau das Gegenteil. Sie waren Beute.
Die Stimme des alten Mannes durchdrang seine Gedanken. „Sie hatten keine Wahl.“
Nate drehte leicht den Kopf. „Was meinst du damit?“
Der Blick des alten Mannes blieb auf die Szene unter ihnen gerichtet.
„In ihrer Verzweiflung taten sie etwas, das sie niemals hätten tun dürfen. Sie griffen über ihre Welt hinaus.“
Während er sprach, sah Nate, wie es geschah.
Die verbliebenen Menschen – Priester, Gelehrte, Anführer – hatten sich tief in einer Höhle, die von Hunderten flackernden Fackeln erhellt wurde, zu einem riesigen Kreis versammelt. Sie standen um eine gewaltige Steintafel herum, in die seltsame Symbole eingraviert waren, die vor dunkler Energie pulsierten.
Sie führten ein Ritual durch.
Nate wurde ganz mulmig, als ihm klar wurde, was sie vorhatten.
„Sie haben Kontakt aufgenommen“, fuhr der alte Mann fort, seine Stimme klang bedeutungsschwer. „Mit einer Zivilisation außerhalb ihrer eigenen.“
Ein blendender Blitz zuckte durch die Höhle und ein Portal riss die Realität auf. Die Wucht des Stoßes schleuderte die versammelten Menschen zurück, ihre Roben flatterten in der windstillen Leere.
Und dann … trat er hindurch.
Ein Mann.
Zumindest sah er wie ein Mann aus.
Er war groß, hatte eine königliche Haltung und einen unlesbaren Gesichtsausdruck. Seine Kleidung war anders als alles, was Nate je gesehen hatte, gewebt aus dunklen Stoffen, die wie flüssiges Metall schimmerten. Seine Gesichtszüge waren scharf, seine Haut blass, sein dunkles Haar fiel ihm über die Schultern.
Aber es war sein drittes Auge, das ihn von anderen unterschied.
Genau in der Mitte seiner Stirn, über seinen beiden anderen Augen, befand sich ein drittes Auge, das mit einem tiefen, wirbelnden blauen Licht leuchtete.
Nate spürte, wie sich sein Magen zusammenzog, als er langsam Luft holte.
Der alte Mann drehte sich endlich zu ihm um. „Der Mann, den du siehst, der durch das Portal getreten ist – er ist dein Vorfahr.“
Nate stockte der Atem. Sein Körper spannte sich an.
Der alte Mann fuhr fort: „Die Koryathaner waren ein mächtiges Volk. Unermesslich mächtig. Aber ihre Welt lag im Sterben. Sie standen kurz vor der Auslöschung.“ Er wandte seinen Blick wieder der Szene unten zu. „Also schlossen die Erdbewohner einen Pakt.“
Nate schluckte schwer.
„Die Koryathaner würden ihre Stärke zur Verfügung stellen. Sie würden gegen die Bestien kämpfen, das Land zurückerobern und das Gleichgewicht wiederherstellen. Und im Gegenzug?“ Der alte Mann machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. „Sie würden die Erde teilen.“
Die Vision vor ihnen blieb wie eingefroren, der Moment, in dem der Deal geschlossen wurde, schwebte wie eine unausgesprochene Warnung in der Luft.
Nates Herz pochte laut in seiner Brust.
Alles, was er über die Geschichte zu wissen glaubte – über die Erde, über die Menschheit, über sich selbst – brach zusammen.
Der alte Mann hob erneut die Hand, und die Welt unter ihnen veränderte sich wie ein Gemälde, das sauber gewischt wurde. Die Vergangenheit entwirrte sich und verflocht sich neu und bildete vor Nates Augen eine neue Szene.
Jetzt war die Erde ein Schlachtfeld.
Die Koryathaner standen an vorderster Front und sahen sich monströsen Kreaturen gegenüber, die noch furchterregender geworden waren. Die Bestien hatten sich vollständig entwickelt – riesige, groteske Wesen mit gepanzerter Haut, leuchtenden Augen und messerscharfen Gliedmaßen, die Stein wie Papier zerreißen konnten. Sie bewegten sich mit unnatürlicher Intelligenz, ihr Brüllen erschütterte den Himmel.
Und doch wichen die Koryathaner nicht zurück.
Nate sah völlig fasziniert zu, wie die dreiäugigen Wesen mit einer Kraft kämpften, die alles übertraf, was er sich jemals hätte vorstellen können. Ein Koryathaner spie eine Feuersäule aus seinem Mund und hüllte eine riesige Bestie in Flammen, die so intensiv waren, dass sogar der Boden darunter schmolz. Ein anderer hob die Hände, und die Luft knisterte, als Blitze aus dem Himmel einschlugen und Wellen von vorrückenden Kreaturen niederschlugen.
Andere manipulierten die Elemente – einige froren ihre Feinde in scharfkantigem Eis ein, andere beschworen den Wind, um schneidende Stürme zu erzeugen, und wieder andere zerbrachen die Erde selbst und sandten Schockwellen aus, die das Schlachtfeld erschütterten.
Sie waren wie Götter, die unter Sterblichen wandelten.
Die Menschen hingegen hielten sich zurück.
Sie sahen voller Ehrfurcht, Entsetzen und Faszination zu. Sie hoben keine einzige Waffe, um zu helfen. Sie kämpften nicht an der Seite ihrer vermeintlichen Verbündeten.
Sie sahen einfach zu, wie die Koryathaner ihre Kräfte vernichteten, ihre Fähigkeiten erschöpften und ihre Ressourcen aufbrauchten – alles für einen Planeten, der nicht ihnen gehörte.
Und dann, endlich, war die Schlacht vorbei.
Die Bestien fielen. Ihre riesigen Körper lagen regungslos über das Land verstreut, einige noch rauchend vom Feuer, andere in Eis gefroren. Stille legte sich über die Welt.
Die Koryathaner hatten gewonnen.
Aber das hatte seinen Preis.
Sie waren jetzt schwach – erschöpft, verwundbar. Viele waren gestorben, ihre Körper waren durch die schiere Kraft, die sie entfesselt hatten, zu Staub zerfallen. Die wenigen, die noch übrig waren, konnten kaum noch stehen.
Und genau in diesem Moment wandten sich die Menschen gegen sie.
Nate stockte der Atem, als sich die Szene unter ihm erneut veränderte. Er sah eine Versammlung – Hunderte von Menschen in einer großen Versammlungshalle, ihre Gesichter ernst und berechnend. Er sah, wie sich ihre Lippen bewegten, und obwohl er sie nicht hören konnte, wusste er bereits, was sie sagten.
Sie hatten Angst.
Angst vor der Macht der Koryathaner. Angst, dass diese mächtigen Wesen, wenn man sie bleiben ließ, eines Tages beschließen könnten, zu herrschen, anstatt zu koexistieren.
Und so fassten sie einen Entschluss.
Sie würden ihren Pakt brechen.
Nate wurde übel, als er sah, wie die Menschen ihren Plan in die Tat umsetzten. Sie griffen die Koryathaner nicht direkt an – nicht, solange sie noch gefährlich waren, selbst in ihrem geschwächten Zustand. Stattdessen stahlen sie etwas.
Ein kleines, unscheinbares Artefakt.
Das Siegel von Arkhara.
Die Stimme des alten Mannes durchbrach die bedrückende Stille. „Es war das Herzstück ihrer Zivilisation. Eine heilige Reliquie, die das Gleichgewicht der Energie ihrer Welt kontrollierte.“
Nate sah zu, wie die Menschen, die nun im Besitz des Siegels waren, ein eigenes Ritual durchführten – eines, das sie genau den Wesen gestohlen hatten, die sie verraten hatten.
Der Boden unter den Koryathanern bebte. Eine wirbelnde Kraft umgab sie, eine unsichtbare Sogkraft, die sie in Richtung Himmel zog. Ihre Schreie der Wut und des Verrats hallten durch den Himmel, als sie von der Erde gerissen und zurück in ihre sterbende Heimatwelt geschleudert wurden.
Die Menschen hatten gesiegt, nicht mit Stärke, sondern mit Täuschung.
Und die Koryathaner?
Sie waren gefangen.
Das Siegel war zu mächtig, um zerstört zu werden, also taten die Menschen das Nächstbeste. Sie zerbrachen es in vier Teile und versteckten sie im Universum.
„Zwei Teile wurden auf der Erde versteckt“, fuhr der alte Mann fort, seine Stimme voller Trauer. „Einer wurde auf dieser Insel platziert, tief in ihrem Herzen vergraben.“ Seine blassen Augen funkelten unleserlich. „Und der vierte … sein Aufenthaltsort ist bis heute unbekannt.“
Nate spürte, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten. Seine Gedanken kreisten, seine Gefühle waren ein Durcheinander aus Schock, Wut und Verwirrung.
Die Menschen hatten diese Geschichte ausgelöscht. In den Lehrbüchern gab es keinen Hinweis darauf, keine Aufzeichnungen über ihren Kampf, keine Anerkennung des Verrats. Die Erde hatte denen, die alles für sie geopfert hatten, ihren Frieden geraubt – ihr Überleben geraubt.
Der alte Mann atmete langsam aus und mit einer letzten Handbewegung verschwand die Vision.
Nate blinzelte verwirrt, als er sich wieder in dem eisigen Palast befand. Die kalte Luft drückte auf seine Haut, die Erinnerungen an das, was er gerade gesehen hatte, brannten noch immer in seinem Kopf.
Der alte Mann drehte sich zu ihm um und sah ihn mit durchdringendem Blick an.
„Als die Koryathaner verbannt wurden“, sagte er, „ist einer von ihnen entkommen.“
Nate stockte der Atem. Entdecke weitere Geschichten in My Virtual Library Empire
Der Gesichtsausdruck des alten Mannes war unlesbar, als er die letzten Worte sprach.
„Dieser Eine … war dein Vater.“
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