Drei. Zwei. Eins.
Nate zählte in Gedanken die Sekunden herunter, den Blick auf die Flammen gerichtet, die vor ihm wie ein wildes, hungriges Tier tanzten und knisterten. Neben ihm stand Sera mit zitternden Beinen, aber entschlossenem Blick. Der Plan war riskant, aber sie hatten keine bessere Option. Nate konnte das Feuer überleben. Das wusste er.
Feuer war seine Kraft. Auch wenn sie schlummerte, unterdrückt von dem Gas, das in der Luft hing, hatte sein Körper immer mit den Flammen mitgeschwungen. Er würde sich niemals von etwas zerstören lassen, das aus seinem eigenen Wesen entstanden war. Aber Sera? Sie musste beschützt werden.
In dem Moment, als Nate „eins“ sagte, schossen Seras Schatten wie eine Welle nach vorne, dunkle Ranken entrollten sich und streckten sich dem Feuer entgegen, um einen Weg freizumachen.
Doch in dem Moment, als ihre Schatten die Feuerwand berührten, ging alles schief.
Ein zischendes Geräusch wie kochendes Öl drang an ihre Ohren, als die Schatten bei der Berührung zerfielen. Sie wurden nicht nur zurückgedrängt – sie wurden ausgelöscht. Verschlungen. Es war, als würde das Feuer nicht nur brennen, sondern alles Leben verschlingen. Seras Knie gaben nach und ihr Gesicht wurde kreidebleich.
Ihre Augen rollten nach oben, als sie zurücktaumelte und fast fiel. Nate fing sie gerade noch rechtzeitig auf und schlang seine Arme um ihre Taille. Ihre Haut war kalt. Ihr Atem ging flach.
„Das … das funktioniert nicht“, flüsterte sie mit kaum hörbarer Stimme.
Nate nickte grimmig und biss die Zähne zusammen. Er ließ sie vorsichtig an die Wand sinken, während sein eigener Brustkorb sich schnell hob und senkte. Das Feuer war kein gewöhnliches Feuer. Es war nicht nur Hitze – es war verstärkt, als Waffe eingesetzt und wahrscheinlich mit derselben verdrehten Technologie hergestellt worden, mit der sie ihre Kräfte unterdrückten. Es ernährte sich von Energie, von Essenz. Deshalb verschlang es ihren Schatten – ihre Fähigkeit.
Er rieb sich die Stirn, während ihm der Schweiß über die Wangen lief. Denk nach, verdammt.
Dann kam ihm die Erleuchtung.
Die Lüftungsanlage.
Er hatte sie schon früher gesehen. Zu schmal für ihn. Deshalb hatte er sie ignoriert. Aber jetzt … waren alle anderen in Seras Schatten. Wenn sie es schaffen würde, könnten sie überleben.
„Sera“, sagte er leise und half ihr auf. Ihre Augenlider flatterten, als sie wieder zu sich kam.
Er zeigte auf die nächste Tür. „Die Lüftungsanlage. Du kannst da durch. Raus auf die andere Seite. Das ist der einzige Weg.“
Sera starrte ihn einen Moment lang an und überlegte. Dann nickte sie schwach. „Ich versuch’s …“
Mit Mühe rappelte sie sich auf, stolperte zum nächsten Raum und verschwand darin. Nate folgte ihr bis zur Tür und sah, wie sie zu der Lüftungsöffnung hinaufblickte. Mit zittrigem Atem verwandelte sie sich erneut in einen Schatten und verschwand nach oben.
Nate atmete erleichtert aus. Ein Problem war gelöst.
Aber jetzt kam der schwierigste Teil.
Er musste die Zeit anhalten.
Er musste alles einfrieren – diesen Moment, in dem sie dem Tod so nah war – bis sie es geschafft hatte. Denn wenn die Zeit weiterlief, während sie noch in den Lüftungsschächten war, würde das Feuer sie wie ein Messer zerreißen.
Sein Körper zitterte. Der Schweiß, der zuvor nur tropfte, strömte jetzt wie Regen über sein Gesicht und seinen Hals. Seine Hände zitterten leicht, aber er zwang sich, sich zu konzentrieren. Er spürte, wie sich seine Kontrolle über die Zeit dehnte, spannte und bog wie ein rostiger Metallstab, der kurz vor dem Brechen stand.
„Nur noch ein bisschen länger“, flüsterte er sich selbst zu.
Er stand da in der Stille, das Feuer mitten in seiner Bewegung erstarrt, wie eine monströse Skulptur aus Licht und Wut. Es sah wunderschön und tödlich aus.
Jede Sekunde zog sich wie eine Stunde hin. Er ballte die Fäuste. Seine Knie gaben leicht nach. Seine Sicht verschwamm, schwarze Flecken bildeten sich am Rand seiner Augen. Er spürte, wie sein Herz in seinen Ohren pochte, wie Kriegstrommeln.
„Komm schon, Sera“, murmelte er. „Komm schon …“
Dann, gerade als er das Gefühl hatte, dass er nicht mehr durchhalten konnte – gerade als sich die Welt zu drehen begann und seine Lungen sich weigerten zu arbeiten – spürte er es.
Eine winzige Veränderung.
Ein Ziehen in der Luft.
Sie war draußen.
Er wusste es. Irgendwie wusste er es.
Seine Lippen öffneten sich. Er ließ los.
Die Zeit sprang wieder an ihren Platz zurück.
BOOM!
Das Feuer schoss in einer gewaltigen Welle nach vorne, jagte nach Sauerstoff und Leben, während es den Flur verschlang. Aber Nate war schon in Bewegung. Sein Körper leuchtete auf – nicht mit den üblichen purpurroten Flammen, sondern mit einem blauen Feuer, rein und fast elektrisch. Blitze tanzten um seine Haut, als würden sie ihren rechtmäßigen Wirt willkommen heißen.
Er rannte auf die Flammen zu.
Dann sprang er hinein.
Für einen Moment war nichts zu sehen.
Das Feuer brüllte, verschlang den Raum und hüllte alles in Rauch und Licht. Aber inmitten des Infernos bewegte sich eine Gestalt wie ein Komet. Nate.
Sein Körper glühte, nicht brennend, sondern leuchtend. Er war wie ein Mann, der in dem Sturm wiedergeboren wurde. Sein Mantel brannte weg und ließ nur sein zerrissenes Hemd darunter zurück, seine Haut war von hitzeflirrendem Licht bedeckt. Die Flammen leckten an seiner Haut, verzehrten ihn jedoch nicht. Sie krümmten sich um ihn herum. Sie kannten ihn.
Sera schoss aus dem schmalen Lüftungsschacht wie ein Geist, der durch die Risse der Realität schlüpfte. Sie rollte sich auf dem Gras außerhalb der Anlage und schnappte nach Luft, während ihre Gestalt flackerte und Schatten wie Rauch um sie herum waberten. Ihr Körper zitterte, ihre Glieder waren schwer, als würden sie von Ketten beschwert. Der Weg durch die Lüftungsschächte hatte ihr alles abverlangt, was sie hatte, und noch mehr.
Sie keuchte schwer und drückte ihre Handflächen auf den Boden, um sich aufrecht zu halten. Langsam hob sie den Blick und sah die Explosion in der Ferne – aus dem zerstörten Gang schlugen immer noch Flammen. Ihr Herz zog sich zusammen. Nate war noch drinnen.
Ein Dutzend andere tauchten um sie herum auf und stolperten aus den dünnen Schattenstreifen, die sie mitgebracht hatte. Verwirrte Stimmen erhoben sich unter ihnen – Ryder, Ray, Liam, Elena und mehrere andere, die aus den Räumen der Anlage gerettet worden waren.
„Was … wie sind wir hierher gekommen?“, murmelte jemand.
„Wir waren im Flur … da war Feuer, eine Explosion …“
„Wartet, wo ist Nate?“
Die Frage traf alle wie ein Hammerschlag. Alle drehten sich um und suchten mit den Augen die Umgebung ab, aber alles, was sie sahen, waren die hoch auflodernden Flammen, die in der Ferne die Anlage verschlangen. Sera war wie erstarrt und starrte weiter vor sich hin. Ihre Hände zitterten, als sie sich an die Brust presste.
„Nein … nein, nein, nein“, flüsterte sie. „Er war noch drinnen …“
Alice‘ Herz schlug ihr bis zum Hals. „Nate …“
Und dann –
BOOM!!
Ein Blitz schoss aus dem Zentrum der Explosion hervor. Er schoss wie ein Komet über den Himmel und hinterließ eine Spur aus Feuer und Elektrizität. Bevor irgendjemand reagieren konnte, krümmte sich der Blitz nach unten und schlug direkt vor ihnen in den Boden ein, wobei er Staub und Gras in alle Richtungen schleuderte.
Der Staub legte sich.
Da war er.
Nate.
Er sank auf ein Knie, sein Hemd war zerrissen, sein Körper schweißgebadet, seine Haut flackerte von schwachen Glutresten und Blitzeinsätzen. Er atmete schwer, seine Muskeln zuckten vor Erschöpfung. Rauch stieg von seinem Rücken auf.
„Nate!“, schrie Sera und eilte zu ihm.
Sie kniete sich neben ihn, packte seine Schulter und sagte mit zitternder Stimme: „Bist du okay? Sag etwas!“
Nate lachte schwach zwischen zwei Atemzügen: „Ich hab dir doch gesagt, dass alles in Ordnung ist …“
Alice folgte ihr, aber bevor sie ihn erreichen konnte, hob Nate eine Hand, um sie aufzuhalten. „Ich kann noch laufen …“
Liam trat neben sie, immer noch keuchend. Er legte eine feste Hand auf Seras Schulter und sah zu Ryder. „Wir haben keine Zeit. Jack … das Labor …“
Ryders Gesicht verdunkelte sich augenblicklich. Er nickte grimmig. „Wir müssen los. Sofort.“
Nate wartete nicht.
In dem Moment, als er wieder zu Atem kam, verschwand er. Ein verschwommener Blitz aus Feuer raste über die Landschaft, schneller, als irgendjemand von ihnen sehen konnte. Die anderen begannen sich neu zu formieren, holten Luft und machten sich bereit, ihm zu folgen.
Aber Nate war bereits im Labor.
Er trat die Eingangstür ein, rannte durch den Flur und rief: „Jack! Madison! Bella!“
Keine Antwort.
Er rutschte in den Hauptraum – und erstarrte.
Cleo.
Das kleine Mädchen lag regungslos auf dem Boden.
Sein Herz setzte einen Schlag aus. „Cleo?!“
Er rannte zu ihr, kniete sich hin und hob sie in seine Arme, nur um festzustellen, dass sie noch atmete. Ihr Brustkorb hob sich ganz langsam. In ihrem Arm steckte ein Betäubungspfeil.
Nate ballte die Fäuste.
Sie hatten sie nicht getötet. Aber sie hatten sie betäubt und wie ein Stück Gepäck zurückgelassen.
Seine Gedanken rasten. Wo waren die anderen?
Wo waren Bella, Jack und Madison?
Etwas tief in Nate brannte – nicht nur Wut, sondern etwas Dunkleres. Wer auch immer das getan hatte … wer auch immer sie entführt hatte … sie würden nicht davonkommen.
—
Jacks Augen flatterten auf.
Sein Kopf pochte, als hätte jemand mit einem Hammer darauf eingeschlagen, und sein Mund war trocken. Die Decke über ihm war gewölbt – aus Metall – und die ständigen Vibrationen unter seinem Körper machten klar, dass er sich in einem Fahrzeug befand … nein, in einem Hubschrauber.
Panik überkam ihn.
Er richtete sich ruckartig auf, nur um festzustellen, dass er sich kaum bewegen konnte. Seine Arme waren festgeschnallt, seine Handgelenke an die Seiten seines Sitzes gebunden.
Er drehte mühsam den Kopf, seine Sicht war immer noch verschwommen – aber er konnte sie sehen.
Madison.
Sie saß ihm gegenüber, ebenfalls gefesselt, den Kopf leicht nach vorne gesenkt, bewusstlos. Etwas seitlich davon saß Bella zusammengesunken, die Arme hinter dem Rücken gefesselt, ihr Atem ruhig, aber langsam. Sie waren alle unter Drogen gesetzt worden.
„Madison!“, schrie Jack.
Keine Antwort.
„Bella!“
Nichts.
Er versuchte es immer wieder, schrie ihre Namen jedes Mal lauter, seine Stimme hallte in dem engen Innenraum des Hubschraubers wider. Aber die Piloten vorne zuckten nicht einmal mit der Wimper. Sie saßen da, schweigend, ihre Helme aufgesetzt, die Hände ruhig auf den Steuerelementen, als ob seine Schreie gar nicht existierten.
Jacks Atem ging schneller, sein Körper kämpfte gegen die Fesseln. Sein kleiner Körper zitterte vor Wut, Frustration und Angst.
Wohin brachten sie sie? Was wollten sie?
Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. Denk nach, Jack. Denk nach.
Seine Armbanduhr war weg, er hatte keine Geräte mehr. Nur er, festgeschnallt in einem unbekannten Hubschrauber mit zwei bewusstlosen Teamkollegen und ohne eine Ahnung, wer der Feind war.
Er versuchte, seine Finger zu bewegen. Sie waren steif und langsam – aber die Wirkung der Droge ließ zumindest bei ihm allmählich nach.
Das ist schon mal etwas, dachte er.
Er drehte seinen Kopf wieder zu Madison. Ihr Gesicht war blass, ihre Augenbrauen zuckten, als würde sie versuchen, wach zu werden. Bella hatte sich nicht bewegt.
Jack biss die Zähne zusammen und zog weiter an den Fesseln. Er würde das nicht einfach so zulassen. Nicht ohne zu kämpfen. Nicht ohne wenigstens einen von ihnen aufzuwecken.
Dann, ganz plötzlich –
Ein heftiger Ruck.
Der Hubschrauber neigte sich leicht in der Luft, und Jack hörte einen der Piloten etwas durch das Headset murmeln. Er konnte die Worte nicht verstehen, aber die Spannung in der Luft veränderte sich plötzlich.
Der Hubschrauber nahm Fahrt auf.
Sie nähern sich ihrem Ziel, wurde Jack klar.
Und wo auch immer das war … es würde nichts Gutes bedeuten.