Nate spürte es, bevor er es sah.
Ein komisches, federleichtes Gefühl an seinen Armen.
Er brauchte eine halbe Sekunde, um zu begreifen, was es war – Sera.
Oder besser gesagt, ihre Abwesenheit.
Sein Griff, der sie fest umschlossen hatte, traf plötzlich nur noch auf Luft. Instinktiv spannte er seine Arme an, aber das Gewicht war bereits verschwunden.
Für einen kurzen Moment überkam ihn Panik, sein Herz schlug gegen seine Rippen. Aber dann, als er nach unten sah, sah er es – ihre Gestalt löste sich in der sich bewegenden Dunkelheit unter ihm auf und verschmolz nahtlos mit dem langgestreckten Schatten, der sich von seinem eigenen Körper aus erstreckte.
Nicht nur sie.
Cleo auch.
Sie waren in seinem Schatten.
Aus seiner Umarmung verschwunden, aber nicht aus seiner Gegenwart.
Die Erkenntnis traf ihn hart und schnell, aber bevor er sie überhaupt verarbeiten konnte, folgte ein anderes Gefühl – Erleichterung.
Pure, ungefilterte Erleichterung.
Es war egal, wie sie es geschafft hatte, es war egal, warum es funktioniert hatte. Alles, was zählte, war die unmittelbare Realität – Sera und Cleo waren keine Last mehr auf seinen Schultern.
Und das bedeutete –
Seine Geschwindigkeit explodierte augenblicklich.
Blitze zuckten an seinen Beinen, als sein Körper instinktiv reagierte und nun, da er sich nicht mehr zurückhalten musste, auf Hochtouren schaltete. Seine Muskeln dehnten sich, wuchsen, brannten – aber es war ein vertrautes Brennen, ein Brennen, das ihm sagte, dass er seine Grenzen überschritt und den Gipfel dessen erreichte, wozu sein Körper fähig war.
Er wusste nicht, wie viel Zeit er noch hatte.
Er wusste nicht, ob das Ding hinter ihm von seiner Beschleunigung beeinflusst werden würde.
Es war ihm egal.
Er rannte einfach.
Die Welt verschwamm zu Bewegungsstreifen, jede zerbrochene Struktur, jede verdrehte Ruine verwandelte sich in undeutliche Schatten, während er über die Erde raste. Sein Atem ging in einem schnellen Rhythmus, synchron mit dem pulsierenden Summen der Elektrizität, die durch seine Adern floss.
Schneller.
Schneller.
Seine Umgebung verdrehte sich unnatürlich.
Schon wieder?
Schwarze Partikel – schwach, aber unverkennbar – begannen um ihn herum zu flackern, winzige Flecken von leeren Staubkörnchen, die in der Luft schwebten und sich drehten und wirbelten, als würden sie von seiner Geschwindigkeit angezogen.
Sein Verstand hatte kaum Zeit, das zu verarbeiten, bevor es passierte.
Eine lautlose Implosion.
Keine Explosion, keine Schockwelle – nur ein Sog, als hätte sich das Universum um ihn herum in sich selbst zusammengefaltet.
Und dann –
Stille.
Kein Wind.
Kein Geräusch.
Keine Stadt.
Nichts als die endlose, wirbelnde Dunkelheit, die sich unendlich um ihn herum ausbreitete.
Er kannte diesen Ort.
Derselbe, der ihn in die Vergangenheit gezogen hatte, derselbe Tunnel aus schwarzem Gas, durch dessen Tiefe schwache Blitze zuckten. Genau das, was ihn hierher gebracht hatte.
Und dieses Mal …
war er nicht allein.
Eine Bewegung – so subtil, so mühelos, dass sie fast mit der Leere verschmolz.
Die Luft wurde scharf und kalt.
Und dann tauchte es auf.
Das Wesen.
Aber irgendetwas war jetzt anders.
Es war nicht die verzweifelte, unerbittliche Verfolgungsjagd von zuvor. Es stürzte sich nicht auf ihn, krallte sich nicht an seinen Fersen fest, versuchte nicht, ihn zu zerreißen.
Es schwebte einfach nur da.
Als ob hier andere Regeln galten.
Als ob dies sein Revier war.
Und zum ersten Mal seit Beginn dieses Albtraums –
rannte Nate nicht weg.
Sein Körper war immer noch angespannt, immer noch verkrampft, immer noch bereit, bei der geringsten Andeutung von Aggression loszustürmen. Aber er bewegte sich nicht. Er drehte sich nicht weg. Er zuckte nicht zusammen.
Stattdessen sprach er.
„… Wer bist du?“
Die Worte kamen aus seinem Mund, schwebten unnatürlich in der leeren Luft, von nichts getragen, nichts berührend.
Für einen Moment war es still.
Dann –
eine Stimme.
Eine Stimme, wie er sie noch nie zuvor gehört hatte.
Sie war nicht laut.
Sie war nicht tief.
Es war kein Flüstern, kein Knurren, kein Schrei.
Sie war falsch.
Verzerrt.
Auf eine Weise verdreht, wie Worte nicht verdreht sein sollten.
„Ich bin der Zeitwächter.“
Nate runzelte die Stirn.
Er brauchte keine weitere Erklärung.
Tatsächlich hatte er bereits etwas Ähnliches vermutet. Er hatte nachgedacht – viel nachgedacht.
Dieses Wesen war nicht einfach nur eine sinnlose Kreatur, die ihn ohne Grund jagte.
Sie hatte ein Ziel.
Sie handelte absichtlich.
Und jetzt, als er diese Worte hörte, ergab alles einen Sinn.
Ein Wächter.
Ein Beschützer.
Nicht von Menschen.
Nicht von Städten.
Sondern von der Zeit selbst.
Die Kreatur hob eine skelettartige, krallenbewehrte Hand und zeigte mit einem langen, gezackten Finger direkt auf ihn.
„Du bist eine Abscheulichkeit.“
Ihre Stimme klang jetzt schwerer und hatte eine unnatürliche Wucht.
„Du gehörst nicht in diese Zeit. Du hast dieser Zeitlinie bereits genug Schaden zugefügt. Ich kann nicht zulassen, dass du noch mehr anrichtest.“
Dann –
Eine Pause.
Eine Veränderung.
Und dann trafen die nächsten Worte härter als alles andere.
„… Und das Mädchen, das bei dir ist, muss sterben.“
Ein langsamer, unheimlicher Atemzug.
„Das ist ihr Schicksal.“
Nates Augen verdunkelten sich.
Sera.
Das Mädchen, das gerade alles verloren hatte. Das Mädchen, das als nichts weiter als ein Werkzeug für ein Ritual benutzt worden war. Das Mädchen, das gerade etwas in sich freigesetzt hatte, das niemand verstehen konnte.
Und jetzt sagte ihm dieses Ding, dass sie sterben sollte?
Sein Kiefer presste sich zusammen.
Seine Hände ballten sich zu Fäusten.
Nein.
Das würde nicht passieren.
„Ich beschütze die Zeit“, fuhr die Kreatur fort, ihre Stimme dehnte sich und verzerrte sich, während sie sprach. „Ich verhindere, dass Abscheulichkeiten wie du sie verderben.“
Nates Gedanken schossen zurück –
zu dem Ritual.
Zu den Worten des Königs.
Zu dem Blut auf dem Altar.
Sie hatten das Blut des letzten Dilmuniten aus dem Persischen Golf gebraucht, um das Dimensionsportal zu öffnen.
Aber –
anstelle von Seras Blut war das von Tiaa vergossen worden.
Was war danach passiert?
Was hatte sich verändert?
Nate wusste es nicht.
Denn er war gegangen, bevor er es herausfinden konnte.
Und jetzt –
Jetzt war dieses Ding hier.
Jetzt sagte es, dass Sera sterben sollte.
Sein Halt in der Realität schien schwächer denn je.
Aber eines wusste er.
Eine Sache, die er nicht in Frage stellte.
Sera würde nicht sterben.
Nicht hier, nicht jetzt, niemals. Und wenn dieses Ding ihr Leben wollte, würde es sich sehr anstrengen müssen.
Der Zeitwächter neigte seinen grotesken Kopf, die ausgetrocknete, gespannte Haut über seinem skelettartigen Gesicht bewegte sich kaum, als er ein Geräusch von sich gab – etwas Unbeschreibliches, etwas, das weder ein Knurren noch ein Kreischen noch ein Flüstern war, sondern eine verdrehte Mischung aus allen dreien. Es war nicht menschlich, und das Geräusch, das es gerade von sich gegeben hatte, war der Beweis dafür.
Dann –
griff es an.
In einer Sekunde beobachtete es ihn nur noch, schwebend in der wirbelnden Dunkelheit des Zeit-Raum-Tunnels. In der nächsten war es vor ihm und schlug mit seinen gezackten Klauen mit unmöglicher Geschwindigkeit nach seinem Gesicht.
Nate hatte kaum Zeit zu reagieren.
Seine Instinkte setzten ein, sein Körper bewegte sich, bevor sein Verstand überhaupt reagieren konnte, seine Kräfte aktivierten sich augenblicklich, als er sein Gewicht verlagerte und sich nach hinten drückte, um dem Schlag auszuweichen.
Aber in dem Moment, als er das tat, traf ihn die Erkenntnis wie ein Kriegshammer –
Es folgte ihm. Perfekt. Mühelos.
Es passte sich seinen Bewegungen an, als würde es sich nicht nur durch die Zeit bewegen, sondern außerhalb davon existieren.
Und bevor er überhaupt begreifen konnte, was das bedeutete –
SCHLAG!
Ein brennender Schmerz durchzuckte sein Gesicht.
„AHHHH!“
Der Schrei entrisch sich seiner Kehle, als er zurücktaumelte und seine Hand an seine Wange schlug. Er konnte es spüren – die Wärme seines eigenen Blutes, das durch seine Finger sickerte, den tiefen Schnitt, der sich über seine Haut zog.
Der Zeitwächter machte keine Pause. Er griff erneut an. Ein weiterer Hieb. Ein weiterer qualvoller Schnitt über sein Gesicht.
Der Schmerz war anders als alles, was er je gefühlt hatte – es war nicht nur ein Schnitt, es waren nicht nur scharfe Krallen, die über seine Haut kratzten. Es war tiefer. Irgendetwas stimmte nicht. Die Wunden brannten, nicht vor Hitze, sondern mit einer unnatürlichen, nagenden Kälte, als würde die Zeit selbst versuchen, ihn auszulöschen.
Seine Sicht verschwamm. Sein Atem ging stoßweise. Er konnte kaum noch die Augen öffnen. Er musste weg hier.
Sein Körper reagierte, seine Geschwindigkeit explodierte augenblicklich, als er losrannte.
Schneller.
Schneller.
Er ging bis an seine absoluten Grenzen, seine Muskeln schrien, sein Körper fühlte sich an, als würde er vor Anstrengung zerreißen. Er rannte nicht nur um sein Leben – er rannte gegen die Zeit selbst.
Aber egal, wie schnell er auch rannte – der Zeitwächter war da. Er rannte nicht. Er jagte ihn nicht.
Er tauchte einfach vor ihm auf, versperrte ihm den Weg und war überall, wo er hinwollte, als würde sich der Raum nach seinem Willen verbiegen.
Da wurde ihm klar: Das war sein Revier. Er konnte ihm nicht entkommen. Er musste hier weg. Nicht hier, nicht an diesem Ort.
Bevor eine weitere Klaue ihn zerreißen konnte, stürmte er mit aller Kraft vorwärts –
Und brach durch.
In einer Sekunde war er von Dunkelheit umgeben.
In der nächsten –
Kälte.
Eisige, klirrende Kälte.
Nate hatte kaum Zeit, sich anzupassen, bevor sein Körper heftig auf den plötzlichen Temperaturwechsel reagierte. Die Luft brannte, als er Luft holte, und der eisige Wind schnitt wie tausend winzige Nadeln auf seine ungeschützte Haut.
Schnee.
Eis.
Endloses Weiß, das sich in alle Richtungen erstreckte.
Sein Kopf schwirrte, sein Körper verkrampfte sich.
Er kannte diesen Ort.
Nicht genau, aber aus der Geschichte.
Er war zu weit gegangen.
Das war nicht nur die Vergangenheit.
Das war die Eiszeit.
Sein Atem kam in scharfen, sichtbaren Wolken, sein Körper begann bereits gegen die unerträgliche Kälte zu protestieren. Seine Wunden brannten jetzt noch mehr, der Frost kroch in seine offenen Schnitte und gab ihm das Gefühl, sein Gesicht würde auseinanderbrechen.
Und dann –
Ein Geräusch.
Ein schriller, vertrauter, schrecklicher Laut.
Es war ihm gefolgt.
Natürlich war es das.
Die Präsenz des Zeitwächters tauchte erneut hinter ihm auf, sein Schrei durchschnitten die gefrorene Luft wie ein Messer. Nate wartete nicht. Er zögerte nicht.
Er rannte los.
Aber diesmal, als sein Körper an seine Grenzen stieß, als seine Füße kaum den Schnee berührten, bevor sie ihn mit übermenschlicher Geschwindigkeit nach vorne schleuderten, begann sich etwas zu verändern.
Die schwarzen Partikel.
Sie waren zurück.
Sie wirbelten um ihn herum, funkelten in der eisigen Luft und flackerten wie winzige dunkle Flecken, die aus der Zeit selbst gerissen wurden.
Er erreichte erneut die Schwelle.
Und genau wie er erwartet hatte –
Eine lautlose Implosion.
Und dann –
War er zurück.
Zurück im Tunnel.
Zurück in der Leere.
Zurück in der Zeit-Raum-Dimension.
Aber dieses Mal –
War er bereit.
Seine Gedanken rasten, endlich fügten sie sich zusammen.
Der Zeitwächter hatte ihn eine Anomalie genannt. Er hatte gesagt, er würde die Zeitlinie beschädigen. Das ergab Sinn.
Aber er hatte noch etwas anderes gesagt – etwas viel Wichtigeres.
Sera musste sterben.
Das war ihr Schicksal.
Nate ballte die Fäuste, sein Körper schmerzte noch immer, sein Gesicht brannte, aber sein Geist war klar.
Dieses Wesen war nicht nur ein Wächter der Zeit.
Es war eine korrigierende Kraft.
Es existierte, um Störungen zu beheben.
Und Sera –
Sera war eine Störung.
Das bedeutete, dass sich bereits etwas verändert hatte.
Der König hatte das Blut des letzten Dilmuniten aus dem Persischen Golf benutzen wollen, um das Dimensionsportal zu öffnen. Aber statt Seras Blut war Tiaas Blut auf dem Altar vergossen worden. Sera sollte an Tiaas Stelle sterben, was bedeutete, dass Nate irgendwie die Zeitlinie verändert haben musste.
Was bedeutete das?
Was hatte sich verändert?
Er wusste es nicht.
Aber wenn der Zeitwächter Sera jagte, bedeutete das, dass sie das Ritual niemals lebend verlassen sollte.
Und das brachte ihn auf eine Idee.
Einen Plan.
Wenn es das einzige Ziel des Zeitwächters war, die Zeitlinie zu schützen, dann sollte das in der Gegenwart keinerlei Auswirkungen haben.
Es war an die Vergangenheit gebunden, daran, zu korrigieren, was bereits falsch war.
Aber die Gegenwart?
Das Jetzt?
Dort hatte es keine Macht.
Das bedeutete: Wenn er Sera in die Gegenwart zurückbringen konnte, wäre sie in Sicherheit. Es war der einzige Weg. Er musste zurück.
Nicht in die Eiszeit.
Nicht ins alte Ägypten.
Nicht in irgendeinen anderen Moment der Geschichte.
Sondern auf die Insel.
In die Gegenwart.
Bevor es zu spät war.
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