Je tiefer Nate in die Tunnel vordrang, desto stärker wurde das Gefühl der Vertrautheit in ihm. Es war nicht nur die Struktur der Gänge oder die stickige Luft, die von einer alten, verweilenden Energie erfüllt war – es war etwas Tieferes, etwas, das tief in seinem Innersten verwurzelt war. Als wäre er auf irgendeine Weise, die sich jeder Logik entzog, schon einmal hier gewesen.
Jeder Schritt hallte durch den Tunnel und wurde von der Dunkelheit verschluckt. Die Niyx in den Wänden glänzten, wenn das schwache Licht seiner Hand von ihren scharfen, glasartigen Oberflächen reflektiert wurde und gebrochene Lichtreflexe über den Stein warf, sodass der Tunnel lebendig wirkte, sich veränderte und bewegte. Er wurde etwas langsamer, während er beobachtete, wie das Licht mit dem Mineral interagierte, aber egal wie lange er hinschaute, das Gefühl der Unruhe ließ ihn nicht los.
Wie lange war er schon unterwegs? Minuten? Stunden? Der Tunnel schien endlos, sich über alle Vorstellungskraft hinaus zu erstrecken, jenseits von Zeit. Er hatte sich fast davon überzeugt, dass es kein Ende gab – nur einen ewigen Weg, der nirgendwohin führte –, als sich plötzlich etwas in der Ferne bewegte.
Eine schwache Umrisse nahmen Gestalt an.
Ein Bauwerk.
In dem Moment, als er es sah, schärften sich seine Sinne, sein Puls schlug ruhig, aber wachsam. Er wusste bereits, dass hier niemand war – keine Anzeichen von Leben, keine Bewegung, keine Geräusche außer dem gelegentlichen Knistern seiner Flamme –, also ließ er das Feuer in seiner Hand heller brennen und beleuchtete den Raum vor sich.
Was er sah, war … unangenehm.
Ein Opferaltar.
Die Konstruktion stand ganz am Ende des Tunnels, aus altem Stein gehauen, ihre Oberfläche mit getrockneten, dunklen Flecken überzogen. Blut. Nates scharfe Augen suchten die Umgebung ab und stellten fest, dass der Boden davon durchtränkt war – dicke, sich überlappende Lachen, die längst getrocknet waren und den Boden dauerhaft befleckten. Er wusste nicht, ob das Blut von Menschen oder Tieren stammte, aber die schiere Menge deutete darauf hin, dass hier mehr als nur ein Ritual stattgefunden hatte.
Es war ein Schlachthaus.
Seine Finger krümmten sich leicht, als er näher kam, sein Blick wanderte über den Altar. Umgeben von unbeleuchteten Kerzen stand in der Mitte ein altes Buch mit einem unglaublich dicken Einband, dessen Ränder vom Alter abgenutzt waren, als wäre es über Jahrhunderte hinweg benutzt worden.
Neugierde flammte in seiner Brust auf.
Nate trat vor, strich mit den Fingern über die raue Oberfläche des Buches und öffnete es langsam. Staub rieselte aus den Seiten, als er die erste aufschlug und den Inhalt überflog – und was er dort sah, ließ ihn innehalten.
Die erste Seite war eine Illustration.
Sie zeigte einfache Tiere, Kreaturen, die in ihrer natürlichen Form die Erde bevölkerten – Löwen, Hirsche, Vögel, Wölfe. Doch dann veränderte sich etwas. Eine Verschiebung. Der Himmel auf dem Bild wurde grün, ein unnatürlicher Farbton, der sich bis zum Boden ausbreitete und alles infizierte, was er berührte. Die nächste Illustration zeigte dieselben Tiere, jedoch nicht mehr in ihrem ursprünglichen Zustand.
Sie hatten sich verwandelt.
Ihre Körper waren zu monströsen Versionen ihrer selbst verzerrt, ihre Augen leuchteten mit etwas Unmenschlichem. Ihre Reißzähne waren verlängert, ihre Gliedmaßen deformiert und ihre Größe hatte sich vervielfacht, sodass sie zu grotesken Kreaturen der Zerstörung geworden waren.
Die Bestien.
Nate blätterte zur nächsten Seite.
Die zweite Illustration ließ ihn langsam erschauern.
Die Bestien streiften über die Erde, aber nicht ziellos. Sie rissen alles mit sich. Städte zerfielen unter ihrer Wut, Wälder brannten, Flüsse färbten sich rot. Die Menschen kämpften, aber ihre Waffen waren nutzlos. Die Kreaturen durchbrachen ihre Verteidigungsanlagen, als wären sie nichts als zerbrechliches Papier. Die Zivilisation brach unter dem Gewicht ihrer Verwüstung zusammen, und alles, was übrig blieb, waren Trümmer.
Das Buch dokumentierte die Gegenwart.
Aber das Buch sah alt aus. Wie konnte derjenige, der es geschrieben hatte, von den aktuellen Ereignissen wissen?
Nates Finger krallten sich fest, als er zur dritten Seite blätterte.
Sein Atem stockte.
Worte.
Nicht nur Zeichnungen, sondern Text.
Das Seltsame – das Unmögliche – war, dass die Worte in einer Sprache geschrieben waren, die ihm fremd sein musste. Und doch … verstand er sie.
Als wären sie in sein Gedächtnis eingraviert und hätten darauf gewartet, erkannt zu werden.
Oben auf der Seite stach ein einziges Wort hervor.
„Lösung“.
Nates Blick wanderte nach unten und folgte den Details der Schrift. Seine Finger fuhren die Tinte nach, während sein Verstand die Bedeutung hinter den Symbolen aufnahm. Unter dem Text befand sich eine weitere Zeichnung – eine Darstellung genau dieses Ortes.
Der Altar.
Der Tunnel.
Es war fast so, als würde ihm das Buch selbst sagen, dass dieser Ort, genau dieser Ort, der Schlüssel zu etwas war.
Seine Augen verengten sich.
War das der Grund, warum alle Könige hier versammelt waren? War dies das Buch, das sie hierher geführt hatte?
Langsam blätterte er zur dritten Seite.
Und da verstand er endlich.
Alles.
Die letzte Illustration zeigte Bestien – genau wie die in den Käfigen oben –, die auf den Altar gezerrt wurden. Sie wurden geopfert, ihre Kehlen aufgeschlitzt, ihr Blut floss auf den Stein und sickerte in die Ritzen. Aber das war noch nicht alles.
Um sie herum waren Kristalle in einem präzisen Muster angeordnet.
Bestienkristalle.
Nates Puls schlug schneller.
Das Blut. Die Bestien. Die Kristalle. Die Könige.
Deshalb hatten sie Bestien gesammelt. Deshalb war der König so besessen von Bestienkristallen gewesen. Denn laut diesem Buch brauchte man beides, um ein Portal zu öffnen –
beides.
Seine Flamme flackerte gegen den Stein und spiegelte sich in den leeren Vertiefungen des Altars, in denen die Kristalle hätten liegen sollen. Als würden sie warten. Als würden sie darauf warten, gefüllt zu werden.
Jetzt ergab alles einen Sinn.
Seine Lippen öffneten sich leicht, und bevor er sich zurückhalten konnte, murmelte er leise:
„All das … nur um ein Portal zu öffnen.“
Die Worte lagen schwer in der Luft und verschwanden in der Stille der unterirdischen Kammer.
In dem Moment, als Nate die vierte Seite umblätterte, breitete sich ein eisiges Gefühl in seiner Brust aus und ließ einen scharfen, unnatürlichen Schauer seinen Rücken hinunterlaufen.
Sein Blick blieb auf der neuen Illustration haften.
Und dann sah er es.
Der Prozess war noch nicht abgeschlossen. Das Blut von Tieren allein reichte nicht aus. Die letzte Voraussetzung – das letzte Teil, das zum Öffnen des Portals benötigt wurde – war ein Menschenopfer.
Er biss die Zähne zusammen, während er weiterlas, und seine Augen suchten jedes Detail, jede verdrehte Anweisung, die dort niedergeschrieben war. Das Blut musste von einer bestimmten Abstammungslinie stammen, einer alten Zivilisation, die längst in Vergessenheit geraten war.
Die Schrift erwähnte einen Namen – Dilmun, ein altes Land, das einst in der Nähe des Persischen Golfs existiert hatte. Es soll ein Ort der Reinheit gewesen sein, ein Land, das von Gott begünstigt und von Korruption verschont geblieben war. Und aus irgendeinem Grund erforderte das Ritual das Blut einer Frau aus dieser Zivilisation.
Nicht irgendeiner Frau.
Eine Jungfrau.
Nates Griff um das Buch verstärkte sich leicht, während seine Gedanken in verschiedene Richtungen kreisten.
Er atmete langsam aus.
Seine Gedanken wanderten sofort zu Tiaa.
Seit Beginn ihrer Reise hatte sie von der Gefangenen in dem Käfig gesprochen. Immer wieder hatte sie das Mädchen erwähnt, Fragen über sie gestellt und sich auf ihr Schicksal fixiert, als würde sie etwas an ihrer Situation wirklich beunruhigen.
Zuerst hatte Nate das abgetan. Er hatte angenommen, dass die Gefangene nur eine weitere Kriminelle war, jemand, der gegen die Gesetze des Königs verstoßen hatte und nun bestraft wurde. Er hatte Tiaa gesagt, sie solle sich da raushalten, sich nicht einmischen und sich nicht von ihren Gefühlen leiten lassen, wenn sie etwas nicht verstand.
Aber jetzt …
Jetzt war er sich nicht mehr so sicher.
War die Gefangene im Käfig wirklich eine Kriminelle?
Oder war sie nur eine unglückliche Seele, ein Mädchen, das gefangen genommen worden war, weil sie das seltene Blut hatte, das für das Ritual benötigt wurde?
Seine Gedanken verdunkelten sich.
Er kannte die Antwort.
Das Buch hatte es bestätigt.
Die Könige hatten sie nicht einfach aus einer Laune heraus gefangen genommen – sie brauchten sie. Sie war nicht nur irgendeine Gefangene. Sie war ein Opfer.
Nate atmete aus und schüttelte leicht den Kopf, als er die nächste Seite umblätterte.
Sie ließ sich nicht öffnen.
Er runzelte die Stirn.
Er versuchte es erneut und drückte seine Finger gegen den Rand, aber es war, als wäre die Seite mit dem Buch verschmolzen, als sollte das, was dahinter lag, nicht gesehen werden. Ein Moment der Frustration überkam ihn, aber bevor er etwas anderes versuchen konnte –
Schritte.
Zuerst ganz leise. Dann immer lauter.
Jemand kam.
Sein ganzer Körper reagierte sofort, seine Instinkte schärften sich, seine Bewegungen waren genau kalkuliert. Er zögerte nicht – er ließ das Feuer in seiner Hand komplett erlöschen und löschte die letzten Lichtspuren, bevor sie seine Anwesenheit verraten konnten. Die Dunkelheit verschlang den Raum erneut, dicht und erstickend. Aber da war Nate schon in Bewegung.
Superschnell.
Die Welt um ihn herum erstarrte.
Es wurde absolut still. Jedes Geräusch – die näher kommenden Schritte, das Rauschen der Luft – verlangsamte sich, als hätte die Zeit selbst ihren Schwung verloren. Selbst der Staub in der Luft schien schwerelos in der Luft zu schweben.
Als Nate durch den Tunnel lief, kam er an denjenigen vorbei, die sich näherten.
Drei Männer.
Sie trugen andere Roben als die gewöhnlichen Könige. Ihre Gewänder waren schwerer, mit komplizierten Mustern verziert, und selbst im schwachen Licht des Tunnels konnte Nate den Reichtum ihrer Kleidung erkennen – das Gold, die Stickereien, die unverkennbaren Symbole der Macht.
Das waren nicht irgendwelche Männer.
Das waren Könige.
Und nicht irgendwelche Könige. Wichtige Könige.
Nates Blick huschte zwischen ihren Gesichtern hin und her, während er gerade so langsam ging, dass er sie genau betrachten konnte. Ihre Mienen waren ausdruckslos, aber an ihrer kontrollierten, bedächtigen und stillen Art zu gehen konnte er erkennen, dass sie nicht hier waren, um etwas Unwichtiges zu tun. Sie gingen direkt auf den Altar zu, direkt auf das Buch.
Kamen sie jeden Abend hierher?
Wussten sie, welche Macht sie ausübten?
Er hätte sie alle sofort töten können.
Der Gedanke schoss ihm durch den Kopf, als er an ihnen vorbeiging, so nah, dass er hätte die Hand ausstrecken und ihnen das Genick brechen können, bevor sie überhaupt begriffen hätten, was geschah. Sie hätten nicht einmal Schmerz empfunden. Sie hätten nicht einmal gewusst, dass sie tot waren.
Aber er ließ sie leben.
Als er vorbeiging, bewegte sich einer der Könige leicht, sein Körper kaum wahrnehmbar in der verlangsamten Welt.
Dann war Nate verschwunden.
Die Welt nahm ihren Lauf wieder auf.
Die Könige gingen weiter, als wäre nichts passiert. Für sie hatte sich nichts verändert. Nichts fühlte sich seltsam an.
Außer –
Einer von ihnen blieb plötzlich stehen und runzelte leicht die Stirn.
„… Sollte hier unten nicht eine Brise wehen?“
Der andere König warf ihm einen Blick zu. „Ich weiß es nicht“, murmelte er. „Hier passieren unerklärliche Dinge.“
Keiner von beiden schaute zurück.
Sie gingen weiter und verschwanden in den Tiefen des Tunnels.
In der Zwischenzeit hatte Nate bereits sein Zelt erreicht.
Er hatte weniger als eine Sekunde gebraucht, um dorthin zu gelangen.
Ohne zu zögern öffnete er die Klappe und trat vorsichtig und geräuschlos hinein. In dem Moment, als er eintrat, schien die Welt draußen zu verschwinden, und das Zelt hüllte ihn in eine unheimliche, unnatürliche Stille.
Er stand einen Moment lang da, sein Gesichtsausdruck unlesbar.
Das Buch. Das Portal. Das Ritual. Das Opfer.
Tiaas Gefangener.
Alles fügte sich zusammen.
Und Nate wusste ohne Zweifel:
Morgen würde sich alles ändern.