„Du scheinst keine Angst zu haben, Mensch.“
Kael erstarrte und hielt den Atem an. Langsam hob er den Blick und sah, wie sich die leuchtenden Iris des Drachen öffneten. Zwei durchdringende, intensiv blaue Augen, wie Juwelen, die den Himmel selbst enthielten, waren nun auf ihn gerichtet.
„Nun, jetzt scheint es doch so, als hättest du Angst, fufufu.“ Der Drache lachte Kael aus.
Kael spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief, als er das Lachen des Drachen hörte, ein leises, fast unheimliches Kichern, das in seinem Kopf widerhallte. Der Klang hallte von den Wänden der Höhle wider und ließ ihn angesichts dieser riesigen Kreatur klein und unbedeutend fühlen.
„Du … du lachst mich aus?“, fragte Kael mit zitternder Stimme, aber er zwang sich, seine Haltung zu bewahren, um nicht noch mehr Schwäche zu zeigen, als er ohnehin schon hatte.
Der Drache neigte leicht den Kopf und fixierte Kael mit einem Blick, der ihm bis in die Seele zu dringen schien.
„Ja. Du, ein menschliches Kind, wagst es, mein Reich zu betreten und nicht wegzulaufen. Du zitterst nicht einmal vor mir. Das … ist merkwürdig.“ Die Stimme hallte tief und ernst in seinem Kopf wider, als wären es mehr als nur Worte – es war eine Kraft, eine Präsenz, die Kael seine eigene Bedeutungslosigkeit spüren ließ.
Kael versuchte mit schwitzigen Handflächen, ruhig zu bleiben. „Ich habe keine andere Wahl, als mich dem zu stellen … auch wenn ich nicht weiß, wie.“ Er holte tief Luft und sah sich um. Die riesige Höhle schien vor Mana-Energie zu pulsieren, und der Drache vor ihm schien weit über jede Kraft hinauszugehen, die Kael begreifen konnte.
„Du fürchtest mich also nicht. Aber dein Mut wird nicht ausreichen, um dich zu retten. Viele sind gekommen, viele sind gescheitert. Was macht dich anders, Mensch?“ Der Drache machte einen Schritt nach vorne, seine massiven Pfoten wogen wie Berge und ließen das Wasser um ihn herum zittern und wogen, als würde die Umgebung selbst von seiner Präsenz geformt.
Kael spürte, wie die Luft dichter wurde und der Druck um ihn herum zunahm. Das Atmen fiel ihm schwer, aber er würde nicht aufgeben, nicht jetzt. Nicht angesichts von etwas so Großem und Unbekanntem. Er hielt den Blick auf die Augen des Drachen gerichtet, während seine Gedanken rasten und er versuchte, einen Ausweg zu finden.
„Und seit wann spielt das eine Rolle?“, fragte Kael mit ruhiger Stimme, die jedoch eine Zuversicht verriet, die dem Druck trotzte.
„Unterschiede sind relativ. Kein Wesen auf dieser Welt ist wie ein anderes. Jede Handlung, jede Entscheidung ist immer einzigartig. Und wenn du deinen Blick auf ein sich wiederholendes Muster von Vergleichen beschränkst, schränkst du nur deine Weisheit ein.“ Er wusste, dass er mit der rohen Kraft des Drachen nicht mithalten konnte, aber sein Verstand und seine Worte konnten etwas bewirken.
Der Drache hielt einen Moment inne und starrte Kael mit noch intensiverem Blick an, als würde er über die Worte des Menschen nachdenken. Der Druck in der Luft schien etwas nachzulassen, aber die Spannung war immer noch spürbar. Der Drache, beeindruckt oder vielleicht herausgefordert von Kaels Kühnheit, lachte leise.
„Hahahaha! Was für ein interessanter kleiner Junge!!“ Die Stimme des Drachen hallte in Kaels Kopf wider, mächtiger denn je.
[Ich dachte, du wärst nur ein weiterer Narr, der versucht, das Unvermeidliche herauszufordern. Aber du … du hast etwas, nicht wahr?]
Kael rührte sich nicht, sein Blick war fest, seine Haltung immer noch trotzig. Er wusste, dass er den Drachen in seinem Innersten getroffen hatte: seinen Stolz auf seine Unsterblichkeit, sein blindes Vertrauen in seine Macht. Aber etwas in der Antwort des Drachen gab ihm das Gefühl, dass er etwas auf der Spur war.
[Du wagst es, mein Wissen, meine Weisheit in Frage zu stellen …] Der Drache fuhr fort, seine Stimme nahm einen tieferen, fast nachdenklichen Ton an. [Aber vielleicht habe ich mich geirrt. Vielleicht liegt wahre Weisheit nicht nur in Eroberungen, Macht und Stärke … Vielleicht liegt sie auch darin, das Wesen, seine Motive, seine Wünsche zu verstehen. Du bist nicht nur hierhergekommen, um mich herauszufordern, oder? Du hast ein Ziel … etwas Tieferes. Zeig es mir, Mensch.]
Kael spürte, wie die Spannung wieder stieg, aber auch etwas Neues: eine Öffnung. Der Drache, der unbesiegbar schien, war nun neugierig auf das, was er zu bieten hatte. Er wusste, dass dies der Moment war, der alles entscheiden würde.
„Ich bin nicht hier, um dich herauszufordern, Drache“, antwortete Kael mit einem Achselzucken. „Ich bin nur einem kleinen Wesen hierher gefolgt. Ich versuche nur, von hier wegzukommen.“
„Kleines Wesen? Aber ich habe von Anfang an niemanden bei dir gespürt, da war nie jemand bei dir“, antwortete der Drache, und Kael wurde verwirrt und drehte sich schnell um …
„Wo bist du?“, fragte er und sah sich um, aber das kleine Wesen war komplett verschwunden.
[Ich verstehe…] Der Drache seufzte und beobachtete die Verwirrung des Jungen, die nicht aufgesetzt wirkte. [Umbra wollte, dass du hierherkommst], sagte der Drache, und Kael sah ihn verwirrt an.
„Umbra?“, fragte er.
[Der Geist dieses Waldes … ein alter … Freund …] Bevor Kael alles verarbeiten konnte, was er hörte, stand der Drache von seiner Ruheposition auf und absorbierte fast unmerklich die gesamte Energie um sich herum. Die Umgebung, die zuvor wie ein riesiger See aus Mana gewirkt hatte, begann zu verschwinden, als würde sie von einer unsichtbaren Kraft verschluckt.
Das Wasser zog sich zurück und eine uralte Ruine tauchte aus der Tiefe auf, als würde sie aus dem Raum selbst entstehen.
Die Veränderung war so plötzlich, dass Kael mehrmals blinzeln musste, um zu begreifen, was vor sich ging. Die Erde bebte, die Atmosphäre wurde dichter und vor ihm erschien eine alte Steintreppe, die zu einem dunklen Weg tief in die Höhle führte.
Der Drache sah Kael mit imposanter Ruhe an. „Sie ist dort unten.“
Er sprach mit einer beunruhigenden Sanftheit, als wäre es eine Einladung. Die Luft um Kael herum schien kälter und schwerer zu werden, die Mana-Energie war jetzt noch dichter und vibrierte um ihn herum. Alles deutete darauf hin, dass er von etwas viel Größerem als sich selbst geführt wurde.
Kael spürte die Last der Entscheidung auf seinen Schultern. Die Treppe vor ihm schien in eine völlig andere Welt zu führen, eine Welt, in der Umbra, der Geist, von dem der Drache gesprochen hatte, auf ihn wartete. Was sollte er tun? War es eine Falle? Oder eine Chance? Er konnte sich nicht mehr nur auf seinen Instinkt verlassen, jetzt musste er sich auf seine Entschlossenheit verlassen.
Doch bevor er sich entscheiden konnte, richtete der Drache seinen Blick auf Kael, ein Ausdruck gegenseitigen Verständnisses in den Augen, als wüsste er, was in ihm vorging. „Ich kann dir nicht länger helfen. Der Weg, den du wählst, ist dein und nur dein. Ich werde hier warten.“
Kael holte tief Luft und spürte, wie die Worte des Drachen in seinem Kopf nachhallten. Der Weg vor ihm war von Geheimnissen und Ungewissheit umgeben, aber der Geist Umbra erwartete ihn.
Es gab kein Zurück mehr. Er wusste, dass er sich etwas Großem näherte, vielleicht etwas, das alles für ihn verändern würde.
Ohne zu zögern ging Kael an dem Drachen vorbei. Das große geflügelte Wesen bewegte leicht den Kopf, versuchte aber nicht, ihn aufzuhalten. Seine tiefen, unergründlichen Augen beobachteten Kael mit einer Mischung aus Neugier und Respekt. Er spürte eine Spannung in der Luft, als würde die Zeit selbst langsamer werden, während er die Steinstufen hinabstieg.
Das Geräusch seiner Schritte hallte durch die Höhle, verstärkt durch die absolute Stille, die ihn umgab. Die Luft wurde dichter, je weiter er vorankam, und ein Gefühl wachsender Kraft schien seinen Körper zu umhüllen, als würde das Mana selbst von seiner Anwesenheit absorbiert. Er spürte, wie seine Energie zurückkehrte, schneller als zuvor, als würde dieser Ort ihn nähren. Die Last auf seinen Schultern, der Schmerz in seinem Arm, alles schien langsam zu verschwinden.
Die gewundene, feuchte Steintreppe führte zu einem tiefen, dunklen Ort, wo das einzige Licht von Kristallen kam, die eine kalte, strahlende Energie auszusenden schienen. Kael wurde klar, dass er sich einem größeren Raum näherte, und bald stand er vor einer riesigen unterirdischen Halle.
Im Gegensatz zum vorherigen Raum, der dunkel und künstlich gewirkt hatte, schien diese neue Höhle von der Natur selbst geformt worden zu sein.
Riesige Bäume, deren Stämme mit leuchtendem Moos bedeckt waren, ragten aus dem Boden empor, ihre Wurzeln waren verdreht und verflochten sich entlang der Wände. Das sanfte Licht der natürlichen Kristalle erhellte den Raum und reflektierte sich in den strahlend grünen Blättern, die einen ätherischen Schimmer ausstrahlten, als wären sie lebendig und würden vor Energie pulsieren. Die Luft war frisch und duftete nach Blumen, und es gab das Gefühl, dass der Raum um ihn herum atmete.
Der Boden war mit dichtem, weichem Gras bedeckt, das sich in Schattierungen von Smaragdgrün und Gold abwechselte, als ob jedes Grashalm mit Mana erfüllt wäre. Jeder Schritt, den Kael machte, ließ die Blätter sanft bewegen und erzeugte ein hypnotisches Geräusch, als würde die Natur selbst auf seine Berührung reagieren.
Aber was seine Aufmerksamkeit wirklich auf sich zog, war das, was am Ende des Raumes lag, auf einer kleinen Lichtung zwischen den Bäumen und Wurzeln.
Dort, an einem Ort, an dem sich das Licht auf fast mystische Weise zu konzentrieren schien, lag eine Frau auf dem Boden, aber nicht einfach so. Sie lag auf einem Bett aus Blättern, die nicht leblos wirkten, sondern sich zu biegen und zu bewegen schienen, als würden sie ihren Körper umarmen. Die Szene um sie herum schien so gestaltet zu sein, dass ein Raum entstand, der vom Lauf der Zeit unberührt schien.
Die Frau hatte langes braunes Haar, das sich um sie herum ausbreitete und wie ein Wasserfall aus Seide floss, der einen Kontrast zu den leuchtenden Farben der Blätter um sie herum bildete. Ihr Gesicht war ruhig und friedlich, als würde sie die Welt um sich herum völlig vergessen. Ihr schlichtes weißes Kleid war zwar einfach, aber von purer Schönheit und reflektierte das sanfte Licht, das den Raum erhellte, und bildete einen erhabenen Kontrast zu der üppigen Vegetation um sie herum.
Sie war von einer Umgebung umgeben, die sowohl magisch als auch heilig wirkte, ein Ort, an dem die Zeit still zu stehen schien.
Kael blieb einen Moment lang stehen und beobachtete die Szene. Sein Atem stockte für einen Augenblick, und er konnte sich der Ruhe und Schönheit, die von der schlummernden Gestalt ausging, nicht entziehen.
Ein Gefühl von Geheimnis umgab sie, als wäre die Frau mehr als nur ein Mensch, als wäre sie mit etwas viel Größerem verbunden, vielleicht sogar mit dem Wesen des Waldes selbst.
Doch bevor er einen weiteren Schritt auf sie zu machen konnte, hielt ihn ein Gefühl wachsenden Drucks zurück.
„Du bist aber süß, Kleiner“, hörte er eine sanfte, einladende Stimme in seinem Kopf.