„…Und was für eine Frage wäre das?“, fragte Tolsey und versuchte, ruhig zu bleiben. Seine Hand griff nach seinem Schwert, aber sein Körper zitterte. Warum wusste er, ohne jemals mit Beam gekämpft zu haben, dass es für ihn so schlecht ausgehen würde?
Warum war ihm so klar, dass dieser Beam, der voller Wut vor ihm stand, eine noch stärkere Version von Beam war, als er ihn Tag für Tag auf dem Schlachtfeld dominieren gesehen hatte?
Er kämpfte darum, ruhig zu bleiben. Schließlich war er ein Offizier. Er hatte diese Position nicht nur wegen seiner Fähigkeiten mit dem Schwert bekommen. Es war auch nicht nur seine adelige Herkunft – zumindest wollte er das gerne glauben. Es war wegen Momenten wie diesen, in denen die Männer Führung brauchten.
„Dein Meister hat dir befohlen, auf deine Vorgesetzten zu hören, oder nicht?“, sagte Tolsey mit festerer Stimme als zuvor.
Beam drehte den Kopf halb zu ihm. Seine Augen waren wild. Die goldenen Flecken, die darin tanzten, strahlten etwas Höllisches, etwas Dominantes aus. Wie hatte er diese Flecken bisher übersehen können, fragte sich Tolsey?
Auf seine Worte hin entspannten sich Beams Schultern ein wenig. „… Ich werde auf den Captain warten“, sagte er, obwohl seine Stimme nichts von ihrer Schärfe verloren hatte und seine Anspannung kaum nachließ.
Keiner der Soldaten wagte sich jetzt in seine Nähe, und da alle Blicke in eine bestimmte Richtung gerichtet waren – in die Richtung des Mannes, den Tolsey für den Mörder hielt –, würde es nur eine Frage der Zeit sein, bis dieser Mann starb, wenn Beam dazu entschlossen war.
Schritte hallten durch den Schnee, als der Captain näher kam.
In Momenten wie diesen, in Momenten höchster Anspannung, schien der Mann nie weit entfernt zu sein, als könne er Unheil schon lange bevor es eintraf, spüren.
Tolsey hatte die Ruhe nur für wenige Minuten aufrechterhalten können, aber Lombard nickte ihm dennoch anerkennend zu. Er war bereits von einem aufgeregten Sergeant über die Geschehnisse informiert worden. Beam drehte sich nicht einmal um, um ihn anzusehen.
Genauso wie der Captain wusste, wann er kommen musste, schienen auch andere Bescheid zu wissen.
Beam drehte den Kopf in Richtung Greeves, der halb durch die Menge stolperte und völlig erschöpft war. Loriel klammerte sich an seinen Arm, halb um ihn zurückzuhalten, halb um sich selbst aufrecht zu halten.
Sie hatte schon Tränen in den Augen, bevor sie die Leiche sah. Sie wussten bereits, was passiert war, wurde Beam klar.
Loriel brach neben ihm zusammen, ihr lila Kleid fiel auf den roten Schnee.
„Charlotte …“, stöhnte sie mit erstickter, heiserer Stimme. Sie griff nach der kalten, toten Hand, die einst der Frau gehört hatte, die sie Charlotte genannt hatte, und flehte ihre Freundin an, aufzustehen.
Aber diese Augen hatten schon längst aufgehört zu sehen, und trotzdem floss immer noch Blut aus der Wunde. Sie war tot, wirklich tot. Egal wie sehr Loriel weinte, die Leiche rührte sich nicht.
Die Soldaten waren Greeves und Loriel gegenüber offen feindselig, aber darin mischte sich auch Unbehagen, als ob sogar sie dachten, dass es zu weit gegangen war, das Mädchen zu töten.
Während Loriel neben ihm weinte, stand Beam wie angewurzelt da, starrte in die Ferne und ballte die Hand zur Faust. Er presste die Kiefer so fest aufeinander, dass er das Gefühl hatte, seine Zähne würden zerbrechen.
Er fragte sich, warum er sich so verantwortlich fühlte. Es war dieser Eid, den er seinem Meister geschworen hatte, die Dorfbewohner zu beschützen, oder? Aber als er gesehen hatte, wie die Frau geschlagen wurde, hatte er keine solche Wut empfunden.
Warum fühlte sich jetzt, wo ein Leichnam vor ihm lag, alles so anders an?
„Ah …“ Plötzlich wurde ihm klar, dass es gar nicht um den Schwur ging. Es war die Ohnmacht. Es war die Angst. Das war es, was ihn auffraß. Er fürchtete sich vor der Zeit vor dem Fortschritt, er fürchtete sich davor, als er noch so schwach gewesen war, so schrecklich schwach, dass er sich nicht einmal selbst verteidigen konnte.
Jetzt war er überzeugt, dass er Macht hatte, dass er Schritte in die richtige Richtung gemacht hatte, dass sich die Dinge zu ändern begannen. Aber wie wahr war das? Wusste er wirklich etwas? Hatte er wirklich irgendeine Macht? Waren seine Kämpfe nicht erbärmlich? Schließlich hatte er Stephanie immer noch nicht gefunden.
Und jetzt, ausgerechnet in dem Lager, in dem er schlief, war eine Frau ermordet worden.
Eine Frau, die er beschützen wollte. Er hatte schon verloren, bevor der Kampf überhaupt angefangen hatte.
Wut umgab ihn, und alle, die ihn sahen, dachten, er würde gleich die Beherrschung verlieren. Aber innerlich war er voller Angst. Er wollte nicht zurück. Er wollte nicht, dass all seine Fortschritte umsonst gewesen waren. Er wollte nicht noch mal all das durchmachen.
Es gab eine Zeit, in der er jeden Schmerz ertragen konnte, egal wie lange er anhielt. Warum fühlte er sich plötzlich so aus dem Gleichgewicht gebracht, nur wegen eines einzigen Fehlschlags? Der Schmerz in seinem Herzen vom Vorabend kehrte für einen Moment zurück, und er umklammerte seine Brust und spürte etwas, das nicht zu ihm gehörte und darum kämpfte, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen.
„Junge“, zischte Greeves neben ihm und stieß ihm in die Seite. Beam drehte sich überrascht zu ihm um. Greeves sah genauso tot aus wie die Frau auf dem Boden. Der Stress der letzten Tage hatte ihm zugesetzt.
Erst auf Greeves‘ Drängen hin bemerkte Beam, dass der Captain ihn rief.
„Tolsey sagte, du hast auf seinen Befehl hin deine Hand zurückgehalten“, sagte Lombard geduldig, „ich bin dir dankbar.“
Erst da erinnerte sich Beam an seine Wut. Sie kehrte dreifach zurück, wie ein brennendes Meer, das die eisige Kälte wegspülen wollte, die die Angst hinterlassen hatte. Er gab sich diesem Gefühl hin. Mit der Wut in sich fühlte er sich wieder stark und bösartig – und ein Teil von ihm genoss es sogar.